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In den vergangenen acht Monaten erreichten über 73.000 Flüchtlinge Italien. Einer von Ihnen war S.D., der im letzten Jahr mit dem Boot von Ägypten aus nach Italien floh.

© picture alliance dpa

Vorfall in Asylbewerberunterkunft in Steglitz-Zehlendorf: "Lieber tot als zurück nach Italien"

Aus Angst vor Abschiebung soll ein syrischer Flüchtling in einer Asylbewerberunterkunft in Steglitz versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Der aus Damaskus stammende Student war vor einem Jahr in einem Boot vor der Küste Italiens angekommen. Dorthin sollte er nun zurück.

Dramatische Szenen ereigneten sich in der vergangenen Woche in einer Asylbewerberunterkunft in Steglitz. Anlass war eine Aktion der Polizei, die morgens um 5.30 Uhr mit vier Beamten das Zimmer des syrischen Flüchtlings S. D. betrat und ihn aufforderte, sich anzuziehen, da er nach Italien abgeschoben werden solle. "Sie sind in mein Zimmer gestürmt und haben mir gesagt, dass ich nach Rom, wo ich bei meiner Ankunft in Europa registriert wurde, zurückgehen muss", schildert der 25-jährige Syrer den Vorfall. In seiner Verzweiflung habe er daraufhin versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen. "Als sie sich geweigert haben, mein Zimmer zu verlassen, bin ich zum Fenster gegangen und habe gesagt 'Ich spring hier runter', wenn ihr nicht geht", erzählt S. D. und sagt, dass er lieber sterben würde, als nach Italien zurückzumüssen.

Willkommensbündnis für Flüchtlinge schockiert über Verhalten der Polizei

Nora Brezger vom Evangelischen Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf und Mitglied im Willkommensbündnis für Flüchtlinge in Steglitz-Zehlendorf zeigte sich nach dem Vorfall schockiert über das Verhalten der Polizisten: „Wir sind empört und verurteilen diese Aktion im Morgengrauen, bei der ein nach langer Flucht traumatisierter Mensch wie S. D. ohne Vorankündigung und Kenntnis seiner Anwältin oder des Heimbetreibers nach Italien, ein Land, in dem weder Hilfe noch Lebensperspektiven auf ihn warten, abgeschoben werden sollte.“

Die Polizei allerdings schildert den Vorfall etwas anders: S.D. habe nicht versucht, sich umzubringen, sondern aus dem Fenster zu flüchten. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es, "der Mann soll versucht haben, über einen vor dem Fenster stehenden Tisch durch das offenstehende Zimmerfenster zu flüchten." Von der Anwältin des Flüchtlings habe die Polizei nichts gewusst, heißt es weiter und dass die Beamten vor dem Betreten des Zimmers dem diensthabenden Sicherheitsdienst Bescheid gegeben hätten, da kein Mitarbeiter des Wohnheimes vor Ort war.

Nora Brezger ärgert die Aussage der Polizei, S.D. habe versucht zu flüchten. Der 25-jährige Syrer habe nach dem Vorfall, einen "sehr verstörten und traumatisierten" Eindruck auf sie gemacht und "nicht wie jemand, der gerade versucht hat, abzuhauen." Außerdem sei das Zimmer von S.D. im dritten Stock gelegen - und für eine Flucht somit ungeeignet.

Abschiebung vorerst abgebrochen

Nach dem Vorfall brachen die Polizisten die Abschiebung S.D.s ab. Die vom Wachschutz der Asylbewerberunterkunft alarmierte Heimleitung ließ den Syrer auf die psychiatrische Station der Charité bringen. "Es ging alles ganz schnell", erzählt S.D. Nach nur drei Stunden in der Charité war er noch am selben Tag zurück in der Asylbewerberunterkunft in Steglitz, in der er sich auch momentan noch aufhält.

Im August vergangenen Jahres war S. D. in einem Boot zusammen mit anderen syrischen Flüchtlingen vor dem Bürgerkrieg von Ägypten aus nach Italien geflohen. "Wir waren 60 Leute und fünf Tage lang auf dem Mittelmeer unterwegs", erinnert er sich. Nach seiner Ankunft in Italien sei er von der italienischen Polizei brutal in Empfang genommen worden; nach Informationen des im Frühjahr gegründeten Steglitz-Zehlendorfer Willkommensbündnisses für Flüchtlinge seien ihm Stromstöße mit Elektroschockgeräten zugefügt worden, er sei auch geschlagen worden. Nachzuprüfen ist das allerdings nicht.

Daraufhin floh S. D., der in seiner Heimatstadt Damaskus Englische Literatur studiert hat, weiter nach Deutschland. Er begann eine Therapie, fing an, Deutsch zu lernen, um sein Studium fortsetzen zu können, und stellte einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der jedoch abgelehnt wurde.

S.D. fordert Revision der Dublin-Verordnung

Als Grund gaben die Behörden die Dublin-Verodnung der europäischen Asylpolitik an, die besagt, dass immer das Land für das Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling das erste Mal europäischen Boden betritt. Dabei wird den südlichen EU-Staaten, in denen die meisten afrikanischen Flüchtlinge ankommen und in denen sie aber wenig bis gar keine Hilfe erwarten können, eine größere Verpflichtung auferlegt als den nördlicheren Ländern. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke hatte die Verordnung genau deswegen zuletzt im Mai im Tagesspiegel kritisiert: Es sei „grotesk“, dass „nicht mehr Flüchtlingsschicksale, sondern Reisewege im Zentrum vieler Asylprüfungen“ stünden, sagte Jelpke dem Tagesspiegel. Auch viele Gerichtsverfahren drehten sich nur noch darum, welches EU-Land für ein Asylverfahren zuständig sei. Jelpke fordert deshalb eine grundlegende Revision des „menschenrechtswidrigen und ungerechten Dublin-Systems“.

Die Abänderung der Dublin-Verordnung ist auch eine der zentralen Forderungen von Flüchtlingen wie S.D. Er hat seit seiner Ankunft in Deutschland vor sechs Monaten schon bei zahlreichen Demonstrationen für die Abänderung der Verordnung teilgenommen. "Niemand und erst recht kein Kriegsflüchtling darf so brutal behandelt werden wie wir bei unserer Ankunft in Italien", sagt er.

Mittlerweile wurde zwar eine Petition eingereicht, die S. D. vorübergehend davor schützt, zurück nach Italien zu müssen, doch der 25-Jährige hat weiterhin Angst vor einer Abschiebung. "Ich habe so viele Pläne für die Zukunft, aber ohne die Anerkennung meines Asylantrags kann ich hier gar nichts erreichen", sagt er.

Die Autorin schreibt als freie Mitarbeiterin für den Tagesspiegel, sie ist in Zehlendorf aufgewachsen. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten

Nora Tschepe-Wiesinger

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