zum Hauptinhalt
In Zehlendorf wird am 70. Todestag, dem 12. Oktober 2014, mit der Verlegung von Stolpersteinen vor ihrem damaligen Wohnhaus in der Niklasstraße 5 an die Flatows erinnert.

© Michael Rohrmann

Zehlendorf: Stolperstein für Georg Flatow: Die Nazis und der Arbeiterfreund

Er war Ministerialrat und wohl einer der Väter unseres Betriebsverfassungsgesetzes. Die Nazis ermordeten den Juden Georg Flatow, Freund von Otto Suhr, im KZ. Zehlendorf wird ihm nun einen Platz widmen und Stolpersteine verlegen. Unser Autor hat sein Leben rekonstruiert.

Als ich vor zwei Jahren mit der Stolpersteinrecherche zu Georg Flatow begann, wusste ich nicht, was ich finden würde. Im Zehlendorfer Gedenkbuch waren nur die Lebensdaten von ihm und seiner Frau Hedwig verzeichnet und als Berufsbezeichnung „Ministerialrat“. Im Internet fand ich dann bald einen Hinweis auf Familiendokumente auf der Internetseite des Leo-Baeck-Instituts in New York und eine Fußnote in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zum Arbeitsrecht. Dort hieß es: „Georg Flatow war Verwaltungsbeamter. 1920 wurde er Regierungsrat im Reichsarbeitsministerium und 1927 Ministerialrat im preußischen Handelsministerium. Er schrieb mit Kahn-Freund zusammen einen Kommentar zum Betriebsrätegesetz.  Flatow war auch Honorarprofessor an der Universität Berlin. Als deutscher Experte im Arbeitsrecht genoß er großes Ansehen und internationalen Ruf. Er wurde nach dem Pogrom im November 1938 als Jude verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt. 1939 emigrierte er nach Holland. 1944 wurde er von den Nazis in Auschwitz umgebracht.“ (Martin Becker, 2005)

Das Stichwort „Betriebsrätegesetz“ sagte mir erstmal nichts. Allerdings fand ich in den Familiendokumenten mehrfach Hinweise darauf. Hedwig Flatow hatte für die Grundsteinlegung 1928 des eigenen, kleinen Hauses ein Gedicht verfasst und mit in den Grundstein gelegt:

Als Zeichen einer neuen Zeit,

sei dieses Buch dem Grund geweiht,

Entdeckst Du es in späten Jahren,

soll Deine Mitwelt dann erfahren,

Was uns in dieser Zeit bewegt,

ob es wohl dauernd Früchte trägt?

Die Arbeitskraft sei neu gestaltet,

dass sie aufs beste sich entfaltet,

Nicht Mühsal bringe sie, nur Segen

und freudvoll soll sich jeder regen,

Mit gleichen Pflichten, gleichen Rechten,

gleich fern von Herren wie von Knechten,

ob wohl dies Ziel ist dann erreicht?

Wir wissen’s nicht, doch Du vielleicht.

Ein „Zeichen einer neuen Zeit“ war also für die Flatows der Kommentar zum Betriebsrätegesetz 1920, „die Arbeitskraft sei neu gestaltet“, das war ihr Lebensthema. In einem Brief von Ernst Fraenkel an die Tochter der Flatows, der wie Otto Suhr, zu den Freunden und Gesinnungsgenossen der Flatows gehörte, wird das noch deutlicher beschrieben: „Ich denke an die vielen Abende und Sonntagnachmittage, die wir in Zehlendorf verbrachten, vor und nach 1933, als die am meisten geschätzten Erinnerungen jener Jahre. Das "Haus Flatow" war eine Institution. Es repräsentiert eine Idee. Heute klingt es wie ein Traum, dass das Buch Deines Vaters in den Grundstein dieses Haus gelegt wurde. Deine Eltern und wir haben zu diesem Zeitpunkt an die Möglichkeiten des sozialen Fortschritts in Deutschland geglaubt. Deine Eltern waren glücklich, sich an der schrittweisen Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung beteiligen zu können.“

Jurist im Dienst der neuen Reichsregierung

War es „ein Traum“, an dem Georg Flatow arbeitete, gab es „die Möglichkeiten des sozialen Fortschritts in Deutschland“, die sich in dem Betriebsrätegesetz von 1920 ausdrückten, mit dem sich Georg Flatow Zeit seines Lebens beschäftigte? Heute wissen wir, es war kein Traum, es gibt diese Möglichkeiten. Betriebsräte und das Betriebsverfassungsgesetz sind für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Vor 100 Jahren war dies überhaupt nicht selbstverständlich.

Georg Flatow (1889 – 1944) wird als Sohn eines Leinwarenhändlers in Berlin geboren. Seine Eltern wollten, dass ihr Sohn mal etwas Besseres werden sollte, er geht auf‘s Gymnasium und studiert danach. Als „Privatsekretär“ tritt er im Dezember 1918 als junger Jurist in den Dienst der neuen Reichsregierung.

Als Mitarbeiter mehrerer sozialdemokratischer Minister hatte er vor allem die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass die Frage: Räte oder Betriebsräte zugunsten der Betriebsräte beantwortet wurde. Georg Flatow wurde schließlich der führende Kommentator des Betriebsrätegesetzes der Weimarer Republik, das der Reichstag im März 1920 beschloss. Das Gesetz war auch nach der Nazizeit noch aktuell und bildete die Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, das 1952 in Kraft trat.

Welche genaue Rolle Georg Flatow in der Phase der Erarbeitung des Betriebsrätegesetzes persönlich gespielt hat, ist erstaunlicherweise bis heute nicht erforscht. Es gibt Untersuchungen zu Vorläuferregelungen dieses Gesetzes, aber entsprechende Untersuchungen oder Dissertationen zur Entstehung des Betriebsrätegesetzes von 1920 habe ich nicht gefunden.

Das Gesetz war heftig umkämpft. Während der zweiten Lesung des Gesetzes kam es zu einer blutig beendeten großen Demonstration vor dem Reichstag. Etwa 100 000 Teilnehmer waren am 13. Januar 1920 zusammengekommen. Preußische Sicherheitspolizei eröffnete das Feuer auf die Demonstranten, dabei starben 42 Menschen, 105 wurden verletzt. Reichspräsident Friedrich Ebert sah sich gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen.

Er sah die Notwendigkeit von Betriebsräten

Trotz alle dem hat Flatow an der Notwendigkeit der Bildung von Betriebsräten unbeirrt festgehalten. Unter dem Gesichtspunkt seiner frühen Entschiedenheit und Klarheit für diesen Weg ist es daher wohl nicht abwegig, Georg Flatow als einen Vordenker unserer heutigen Betriebsverfassung zu bezeichnen, leider ein vergessener Vordenker.

Die Tochter von Georg und Hedwig schreibt am Schluss ihres Briefs an das Leo-Baeck-Institut, mit dem sie die Familiendokumente übersandte: „Ich hoffe und bin froh, wenn die Geschichte dieser Familie ein gutes Zuhause in Ihrem Institut finden wird, so dass die Texte eine Spur der Erinnerung und des Gedenkens für meine Familie sein werden. Zur gleichen Zeit werden sie etwas Licht werfen und einen Einblick in die deutsch-jüdischen Lebensbedingungen und einen Teil der Geschichte geben für die wenigen, die es interessiert und die es nicht vergessen wollen.“

Damit es nicht wenige bleiben, die es interessiert und die es nicht vergessen wollen, habe ich einige meiner Rechercheergebnisse auch mit der Hoffnung veröffentlicht, dass Historiker und Juristen, aber auch Politiker die Bedeutung von Georg Flatow erkennen und für eine ihm angemessene Würdigung sorgen.

Vor Ort werden wir am 70. Todestag, dem 12. Oktober 2014 mit der Verlegung von Stolpersteinen um 12 Uhr vor ihrem damaligen Wohnhaus in der Niklasstraße 5, in Berlin-Schlachtensee an die Flatows erinnern. Das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf wird im Anschluss daran einen bisher namenlosen Platz in der Nähe, auf dem die Nazis 1935 bis 1943 ein Denkmal für den Antisemiten Theodor Fritsch errichtet hatten, nach Georg und Hedwig Flatow benennen.

Der Autor Dirk Jordan arbeitet in der AG Spurensuche der Kirchengemeinde Schlachtensee, war früher Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg und schreibt für den Zehlendorf Blog eine Serie über die "Stillen Helden" im Nationalsozialismus. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Dirk Jordan

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false