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Stufe nach oben: Annegret Richter und Anna Niestroj (r.) wollen mit ihrem "Ghettogether" Gestalter im Wedding voranbringen.

© Thilo Rückeis

Gentrifizierung in Berlin-Wedding: "Der Wedding ist noch unterentwickelt"

In den letzten Jahren haben sich bereits einige Kreative im Wedding angesiedelt. Doch wo führt die Entwicklung hin? Der Wedding-Blog hat mit den Gründerinnen des "Ghettogether"-Stammtischs gesprochen.

Schon sechs Mal haben die Designerinnen Anna Niestroj (28) und Annegret Richter (35) das monatliche „Ghettogether“ veranstaltet, eine Art Weddinger Freiberufler-Stammtisch. Beide arbeiten als Gestalter im Wedding, Niestroj betreibt in der Gerichtstraße den Co-Working-Space „BlinkBlink“. In den Räumen, die sie Ende 2011 selbst renoviert hat, findet auch das Interview mit dem Wedding-Blog statt. Mit gutem Blick auf den Späti gegenüber. Es soll um den Wedding als Kreativ-Standort gehen, die Vernetzung der Kreativen untereinander und das böse Wort mit G: die Gentrifizierung. Also los.

Anna, Annegret, Ihr kommt beide nicht aus Berlin. Wie hat es euch in den Wedding verschlagen?

ANNA NIESTROJ: Für mich war der Wedding immer schon der Ort, wo ich in Berlin leben wollte. Ich habe nach meinem Studium in der Schweiz völlig unbedarft und unbedacht hier angefangen und den Laden komplett selber renoviert.

ANNEGRET RICHTER: Ich bin seit vier Jahren im Wedding, vorher habe ich in Mitte gewohnt. Viele meine Mitbewohner sind dann nach Neukölln gezogen. Irgendwie findet der Wedding seine Leute. Erst habe ich in der Maxstraße am Leo gewohnt, wo eigentlich nur Casinos sind und Assis. Das war ein Kulturschock. Immer wenn ich mich im Rock auf mein Fahrrad gesetzt habe, war gleich Aufruhr.

Dumme Sprüche inklusive?

ANNEGRET RICHTER: Ja. Alles von „Ey, isch würd' dich sofort heiraten!“, was ja noch irgendwie süß ist, bis hin zu „Ey, isch leck dir die Muschi!“.

ANNA NIESTROJ: Echt? Hart. Naja, es ist einfach nicht so nett. Ich meine, die Leute sind nett, aber es ist nicht so... nicht so fluffig.

Die Gerichtstraße ist eh speziell: Hells Angels, Spätis, türkische Männercafés, Netto, und dazwischen BlinkBlink.

ANNA NIESTROJ: Ja, hier ist es anders. Für mich ist das nicht so schlimm, eher für die Leute, die ich anziehen will. Nicht jeder kann umgehen mit den Menschen, die jeden Tag vor der Tür stehen und Bier trinken, gerade im Sommer. Mein Laden geht zur Straße raus, ich kriege also alles mit. Man ist schon auch permanent unter Beobachtung. Ich kenne mittlerweile alle, auch die Kinder und Cousins. Das ist im Sommer deren Wohnzimmer (zeigt auf die äußere Fensterbank). 

Ghettogether – so heißt euer Netzwerk mit regelmäßigen Treffen. Wie kamt ihr auf die Idee, euch mit anderen Kreativen aus dem Wedding zusammenzutun?

ANNEGRET RICHTER: Mir war es wichtig, die ganzen Leute zusammenzubringen, die so arbeiten wie ich: von zuhause. Von denen man sonst nichts mitbekommt.

ANNA NIESTROJ: Es war keine Vernetzung da. Die Leute sind sich zwar am Abchecken, nehmen zwar Notiz, aber so richtig interessieren sie sich nicht füreinander.

Aber es gibt doch schon das Kulturfestival Wedding/Moabit und das dazu gehörige Netzwerk.

ANNA NIESTROJ: Ja, aber ich würde nicht behaupten, dass das mithalten kann mit dem, was in Neukölln oder Kreuzberg passiert. Die Ansprache ist unpersönlich, man weiß als Kultur-Akteur nicht, was man davon hat, sie sind auch überhaupt nicht Neue-Medien-affin.

Zusammen ist man weniger unkreativ: Annegret Richter und Anna Niestroj in Niestrojs Co-Working-Space "BlinkBlink" in der Gerichtstraße im Wedding.
Zusammen ist man weniger unkreativ: Annegret Richter und Anna Niestroj in Niestrojs Co-Working-Space "BlinkBlink" in der Gerichtstraße im Wedding.

© Thilo Rückeis

Wie unterscheidet ihr euch von dem, was es sonst gibt an Initiativen und Zusammenarbeit?

ANNA NIESTROJ: Vieles, was hier passiert, in den Quartiersmanagements und Netzwerken, passiert ohne gute Kommunikation. Es gibt da immer Cliquenbildung, die streiten sich dauernd, dann schließen sie welche aus, und dann machen sie ein Wedding-Netzwerk, aber sagen, dass die und die nicht mitmachen dürfen. Das ist so albern! Bei uns gibt es diese Machtspielchen noch nicht. Wir treffen uns, trinken Bier, reden und kommen weiter.

Was könnt ihr mit Ghettogether den Leuten Neues anbieten?

ANNA NIESTROJ: Dass man Leute trifft, die tatsächlich im Wedding leben und arbeiten. Aber auch ganz banale Sachen wie Sozialversicherung.

Was sind die konkreten Ziele?

ANNA NIESTROJ: Dass alle, die hier arbeiten, erkennen, dass wir stärker sind, wenn wir zusammenhalten. Dass es nach außen keine Wirkung hat, wenn jeder vor sich hinarbeitet. Wir wollen kommunizieren, dass dieser Stadtteil auch Talente hat.

ANNEGRET RICHTER: Der Standort Wedding ist noch unterentwickelt. Das Potenzial, aktiv Dinge zu gestalten, die es noch nicht gibt, ist riesig. Die Leute, die hier sind, das ist ein besonderer Schlag Mensch.

Oft genug ist diese Entwicklung dann aber eine Verdrängung, so wie es in Kreuzberg und Neukölln passiert. Die Migranten müssen dann in die Außenbezirke ziehen.

ANNEGRET RICHTER: Darüber haben wir uns auch unterhalten, ob wir Teil der Gentrifizierung sind, oder sie vorantreiben...

AN (unterbricht): Ja, sind wir, klar! Es liegt in der Natur der Sache. Wir sind Gestalter. Wir gestalten nicht nur Logos und Flyer, sondern auch eine Straße mit viel Leerstand. Wir sind so.

Wie weit ist es denn mit der Entwicklung im Wedding?

ANNA NIESTROJ: Naja. Das Stattbad gibt es schon seit 2009. Aber das einzige, was sich an der Umgebung verändert hat, sind die Mietpreise, die gestiegen sind, weil ausländische Investoren alles aufkaufen. Es gibt kaum coole Bars, die regelmäßig geöffnet sind, und man kann nur an sehr wenigen Orten gut Mittag essen.

"Wenn sich dieses Jahr nichts ändert, bin ich weg"

Kreativität fürs Leben: Annegret Richter und Anna Niestroj (r.) vom Weddinger "Ghettogether" in der Eingangstür des "BlinkBlink" in der Gerichtstraße.
Kreativität fürs Leben: Annegret Richter und Anna Niestroj (r.) vom Weddinger "Ghettogether" in der Eingangstür des "BlinkBlink" in der Gerichtstraße.

© Thilo Rückeis

Die Gentrifizierung ist also schon hier, nur ohne die Leute?

ANNA NIESTROJ: Ja, die Investoren denken, das ist hier schon ein Bienenstock voller kreativer junger Leute. Aber das ist nicht so. Dieses Jahr habe ich für mich als Deadline festgelegt – kommt eine spürbare Veränderung, ja oder nein. Wenn nicht, dann bin ich weg.

Klingt nach Desillusionierung.

ANNA NIESTROJ: Naja, schon ein bisschen. Ich denke mir: Was bringt es, dass ich immer wieder Leute herbringe, aus Kreuzberg, Neukölln, aber die fahren dann wieder nach Hause. Es gibt hier keine Ausweichorte.

ANNEGRET RICHTER: Ach, ich glaube, du bleibst hier. Wenn das Ghettogether erst mal richtig in Fahrt kommt... (lacht)

„Ghettogether“ – so ganz ohne die Wedding-Klischees kommt ihr dann aber auch nicht aus.

ANNEGRET RICHTER: Das gehört aber auch dazu. Der Wedding ist eben der Wedding.

ANNA NIESTROJ: Das ist eben diese Ironie. Die eignet man sich hier an. Ich habe mich dran gewöhnt, dass in der Schlange bei Netto der Mensch vor mir und der Mensch hinter mir eine Fahne hat. Die Menschen hier sind halt kaputter als in Charlottenburg. Man versucht eben, das Beste draus zu machen.

ANNEGRET RICHTER: Es hat trotzdem seinen Charme. Ich finde, man muss aus dem Wedding nichts machen, was er nicht ist.

Andererseits wollt ihr es aber dann doch: ihn verändern. Denn so wie er jetzt ist, gefällt er euch ja auch nicht.

ANNA NIESTROJ: Mein Laden geht eben zur Straße raus. In den Hinterhöfen hier nebenan kriegt man das sicher gar nicht so mit. Oder die Leute in den Ateliers im Stattbad, denen kann das vielleicht auch eher egal sein. Die können das cooler sehen, in so einem Ghetto zu arbeiten.

Wie sollte es eurer Meinung nach in zehn Jahren hier aussehen?

ANNA NIESTROJ: Meinetwegen darf es so aussehen wie jetzt. Es soll nur mehr vermischt sein. Unfair finde ich, wenn Leute hier hinkommen und sagen: Boah, wie hässlich. Aber anderswo ist es doch genauso hässlich! Berlin ist einfach keine schöne Stadt. Aber das ist in den Köpfen drin. Das „Normalvolk“ braucht, glaube ich, einen Erkenntnispunkt, an dem sich das Meinungsbild verändern kann. Den wollen wir erreichen.

Ihr nehmt also diese Rolle als Avantgarde bewusst an?

ANNA NIESTROJ: Ja. Wenn wir eine Plattform machen, die dem ästhetischen Hip-Berlin entspricht, können wir eine Zugkraft entwickeln, die es bisher nicht gibt. Beim Kulturfestival haben wir hier bei BlinkBlink eine Beauty-Bang-Party gemacht. Man konnte sich die Haare machen lassen, die Nägel und Tattoos. Selbst die kleinen Jungs von Gegenüber waren hier und haben sich die Nägel lackiert.

Ihr kommt nicht aus Berlin, aber ihr lebt beide hier. Wo genau ist eure Heimat?

ANNEGRET RICHTER: Schwer zu sagen. Ich denke: hier. Wedding.

ANNA NIESTROJ: Ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben einem Ort heimatlich verbunden. Wir sind als Kinder emigriert, dann umgezogen, ich war in Hamburg, in der Schweiz, den Stadtteil kenne ich jetzt seit zehn Jahren. Meine Geschwister sind hier. In Kreuzberg fühle ich mich wie ein Tourist.

Der "BlinkBlink"-Blog

Webseite von Annegret Richter
Dieser Artikel erscheint im Wedding-Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

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