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Die Poststellen-Mitarbeiter des Sozialgerichts sind immer noch gut beschäftigt.

© Thomas Loy

Bilanz am Sozialgericht Berlin: Alle 24 Minuten eine Hartz-IV-Klage

Hunderttausende von Klagen gegen die Jobcenter haben den Sozialrichtern viel Arbeit beschert, aber auch einen erheblichen Zuwachs an Aufmerksamkeit. "Hartz IV war ein Jobmotor für junge Juristen", sagt die Präsidentin des Sozialgerichts.

Bekommt man davon einen Stempel-Arm? Die Justizangestellten in der Poststelle des Sozialgerichts lachen. "Wir machen ja Ausgleichssport, dann geht das", sagt der diensthabende Eingangsdatums-Stempler. Außerdem werde wochenweise rotiert. Insgesamt 216 "nicht-richterliche" Mitarbeiter kümmern sich um die Aktenflut im Berliner Sozialgericht. Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Klagen im vergangenen Jahr erneut gesunken, aber die Akten zu den 23.597 Einzelfällen werden immer dicker. Außerdem schiebt das Gericht einen Berg unerledigter Fälle auch aus anderen Rechtsgebieten vor sich her. Der Berg wuchs bis 2012 auf mehr als 40 000.Verfahren und verliert seitdem kaum an Höhe.

Die Präsidentin des Sozialgerichts, Sabine Schudoma, zog am Mittwoch eine launige Bilanz des inzwischen zehn Jahre andauernden Hartz-IV-Klagewesens. Insgesamt 215.527 Verfahren zur Konflitbewältigung zwischen Jobcentern und ihren Kunden hat das Sozialgericht bearbeitet - statistisch umgerechnet bedeutet das: alle 24 Minuten ein Verfahren. Die 14 Sitzungssäle des Gerichtsgebäudes an der Invalidenstraße seien jeden Tag komplett ausgebucht, außerdem würden viele Fälle schon im Vorfeld einer mündlichen Verhandlung gütlich geregelt. Die Erfolgsquote für die Kläger ist inzwischen auf knapp unter 50 Prozent gesunken.

Der Teufel liegt im Hartz-IV-Detail

Gleichzeitig ist die Komplexität der Verfahren gestiegen. Die Jobcenter arbeiten nach Aussage von Schudoma inzwischen professioneller. Die Zahl der Klagen wegen "Untätigkeit" der überlasteten Jobcenter ist gesunken. Dafür immer hoch: Die Zahl der Streitigkeiten wegen Anrechnung von Erwerbseinkommen, Erstausstattung von Wohnungen und Leistungskürzung bei Sanktionen. Der Teufel liegt im Hartz-IV-Detail. Schudoma berichtete von einen Beispielfall aus dem vergangenen November: Eine selbständige Home-Office-Sekretärin, die aufstockte, machte gegenüber dem Jobcenter Ausgaben für einen neuen Drehstuhl und eine Fahrradreparatur (zwei neue Bremsklötze) geltend. Das Jobcenter lehnte ab. Das Sozialgericht sollte nun klären, wie oft das Fahrrad für Dienstfahrten genutzt wird und ob die Rückenschmerzen, die die Sekretärin als Grund für die Anschaffung des Drehstuhls nannte, ärztlich attestiert werden müssen. Der Richter entschied zugunsten der Sekretärin, das Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg legte Berufung ein.

Klageflut bringt viel Aufmerksamkeit

Die Hartz-IV-Reform bedeutete für das Berliner Sozialgericht eine hohe Belastung und gleichzeitig einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Vor der Reform hätten die Sozialrichter innerhalb des Justizwesens und auch in der allgemeinen Öffentlichkeit ein Nischendasein geführt, die Klageflut brachte schließlich viel Aufmerksamkeit. "Für viele Beobachter ist der Pegelstand der Klageflut geradezu zum Maßstab für den Erfolg der Hartz-IV-Reform geworden", sagte Schudoma.

Für Sozialrichter war Hartz-IV ein richtiger Jobmotor. Vor der Reform arbeiteten 55 Richterr am Berliner Sozialgericht, inzwischen sind es 133. Allein 64 von ihnen sind mit den Jobcenter-Klagen beschäftigt. "Zumindest in Berlin sind wir das jüngste Gericht", so Schudoma mit einem Augenzwinkern. Auch die Frauenquote suche justizweit ihresgleichen. Die Hälfte der Richterschaft sei weiblich.

Um mehr Fläche für Richterbüros zu schaffen, gab das Sozialgericht seine Kantine auf. Zusätzlich wird im Hof eine neue Halle für 200.000 Akten angebaut.

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