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Ralf Schönball

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Berlin: Bildung zum Mitnehmen – in jedem Kiez

Die eine, ganz große Bibliothek will der Senat um jeden Preis. Für die vielen kleinen im Kiez aber fehlt das Geld.

Billy stöhnt und geht aus dem Leim. Die kleine Hexe kommt angeflogen, Pipi hinterher und Antonia, 8, schleudert auch noch Räuber Grapsch ins Ikea-Regal. Gut, dass Kater Mikesch zurück in die Bücherei muss und dass ich die Regalwände mit Stahlwinkeln verstärkt habe. Kinder, Kinder – jeden Tag fordern sie unerbittlich: „Vorlesen!“ Zum Glück gibt’s Büchereien. Wenn die nicht wären, dann müssten wir anbauen, bei dem Stoff, den wir brauchen, um die wilden Kerle ruhig zu stellen.

Wir haben’s gut. Die Bücherei ist im Schulgebäude. Während Jan Philip, 6, beim Judo zum Hüftwurf ansetzt, tauschen wir Bücher und Hör-CDs um. Kann man selbst machen am Scanner, die Bibliothekarin hilft im Notfall aus. Kultur to go: praktisch, geht schnell, liegt auf dem Weg. Das ist nicht überall so.

Nicht mehr. Vor 15 Jahren gab es doppelt so viele Büchereien wie heute. „Kahlschlag“ nennen es Vertreter des Verbandes. Politiker sagen aber auch: „Lesegewohnheiten“ ändern sich, darauf reagiere man. Geschlossen würden enge, staubige und düstere Häuser. Dafür entstünden helle Bücherpaläste an U-Bahnhöfen mit PC-Arbeitsplätzen, Leseecke und Café: zentral gelegen schreiben sie Besucherrekorde. Dussmann und Hugendubel als Vorbild, das Prinzip Kulturkaufhaus setzt sich durch. Mit ähnlichen Argumenten verkauft der Senat den Bau der Zentral- und Landesbibliothek, die auf dem Tempelhofer Feld entstehen soll: alles neu, alles schick, alles digital. 270 Millionen Euro gibt er dafür leichter Hand her.

Über ein besseres Budget für Stadtbüchereien wird dagegen nicht einmal nachgedacht. Im Gegenteil: Es wird gekürzt. Der Senat schiebt es auf die Bezirke, denen er eine pauschale Summe überweist. Wenn aber dort Bibliothekarin Schulz in Ruhestand geht, dann ist die Gelegenheit günstig, die Stelle zu streichen und kleine Häuser „zusammenzulegen“. So vermeidet man das böse Wort: „Schließung“. Büchereien sind eben keine „Pflichtaufgabe“, wie es im Amtsdeutsch heißt – kann notfalls weg!

Ach wirklich? Das Schielen auf die Zahl der Besucher und der ausgeliehenen Bücher ist fragwürdig. Trotzdem spielt es bei der Berechnung der pauschalen Zuweisungen an die Bezirke eine Rolle. Gestärkt werden so die ohnehin erfolgreichen Büchereien: Eine der meistbesuchten in Charlottenburg-Wilmersdorf liegt dicht an Schmargendorfs Villenviertel. Wer seit Kindertagen liest, nutzt Büchereien auch später viel. Wer dagegen zu Hause nicht an Bücher kommt, macht auch sonst oft die Biege, wenn’s um Bildung geht.

Selbst schuld? Nein, es gibt sie, die Erfolge kleiner Büchereien. Es spricht sich schnell rum im Kiez, wenn es da so’n Laden gibt mit Internet-PC, Spielen und Magazinen. Dass es vor allem Bücher gibt, nehmen die Kids in Kauf. Irgendwann greifen sie dann mal zum Schmöker und sind angefixt. Wer diese Häuser schließt, weil der Betrieb aufwendiger ist und mehr Personal braucht, der kann die Brennpunkte gleich ganz abschreiben.

Schade eigentlich, denn dort leben die kinderreichsten Familien. Hat jemand mal nachgerechnet, was es kostet, wenn man deren Kinder lebenslang auf Hartz IV setzt? Dem Lesenden erschließen sich Welten – auch die Berufswelt. Dafür brauchen Kinder einen Kompass. Den finden sie in der Bücherei. Wer das in jungen Jahren nicht lernt, lernt es als Erwachsener nimmermehr.

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