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Im Stall den Alltag vergessen, das klappt auch mit Handicap. Silke Rauterberg führt ihr Pony Goya.

© Ariane Bemmer

Blinde Reiterin: Galopp nach Gehör und Gefühl

Blind und hoch zu Pferde - geht das? Silke Rauterberg kann seit ihrer Kindheit nicht sehen – und wurde trotzdem als Erwachsene zur begeisterten Reiterin. Ihr Hobby sei ihr „Traum von Inklusion“, sagt sie. Machen, was alle anderen machen. Mit denselben Zielen – und Risiken.

Dass Ponys im Dressurstall Eichkamp im Grunewald nicht die Regel sind, sieht man schon daran, dass sie hinter den hohen Boxentüren unsichtbar sind. Aber um Sehen oder Gesehenwerden geht es in diesem Fall nicht.

Zügigen Schrittes kommt Silke Rauterberg, 43 und als Kind nach einer Pockenimpfung langsam erblindet, durch die Gasse anmarschiert. Sie kann nur noch schemenhaft Hell und Dunkel erkennen, sonst nichts, so dass es ihr egal sein kann, dass in deren Ecken dicke Spinnengewebe herumhängen. Genau vor Goyas Box hält sie an. Gefühlt, wie sie sagt. Das Pony reckt die Nase hoch. „Na mein Süßer!“

Mit geübten Handgriffen putzt sie Goya

Am Boxengriff hängt ein Halfter. Silke Rauterberg nimmt es, geht zum Pony hinein, tätschelt es am Hals und streift ihm das Halfter über den Kopf. Dann holt sie das Tier raus und bindet es in der Gasse an. Goya ist zehn Jahre alt, braun mit schwarzer Mähne und weißer Blesse, ein mit 1,45 Meter etwas zu groß geratener Welsh-C-Ponywallach – aber gerade richtig für seine schmale Reiterin, die auch nur einen Meter 63 misst.

Es wird ihr zweiter Ritt an diesem Tag. Morgens um neun Uhr hatte sie schon Unterricht auf Honeymoon Dancer, der in der Box nebenan steht: neun Jahre alt, schmaler als Goya, ein deutsches Reitpony und fast schwarz.

Der Putzkasten mit Hufkratzer, Striegel und Kardätsche steht noch vom Morgen da. Mit geübten Handgriffen wird das Pony gesäubert, das dabei kess in der Gegend herumschaut, ob vielleicht jemand ein Leckerli hat. Den Dressursattel holt Silke Rauterberg aus der Sattelkammer, die nur ein paar Meter weiter im Stall ist, drinnen hat sie immer eine Hand leicht vorgestreckt, um unter den vielen Sätteln, die an der Wand neben- und übereinander hängen, den richtigen zu ertasten.

Unterwegs in der Dressurhalle am Eichkamp.
Unterwegs in der Dressurhalle am Eichkamp.

© Ariane Bemmer

Als Goya fertig ist, nimmt die Reiterin die Zügel in die Hand und fragt in die lange Boxengasse hinein: „Können wir rechts vorbei?“ Denn dass da noch ein Pferd steht, das ebenfalls gerade gesattelt wird, hat Silke Rauterberg mitbekommen. Dessen Reiterin gibt das Okay und schiebt ihr Tier zur Seite, so dass Silke Rauterberg und Goya gut vorbeikommen. Sie müssen nur einmal um die Ecke, dann ist da schon der Eingang zur 20 mal 60 Meter großen Halle.

Drinnen sind zwei Reiterinnen, die mit ihren gewaltigen Dressurpferden Lektionen üben. Durch eine schmale Fensterreihe fällt Sonnenlicht herein, ein heller Streifen im dunklen Sand. Silke Rauterberg gurtet nach und sitzt auf. „Darf ich den äußeren Hufschlag haben?“, fragt sie. Das ist die Spur immer an der Wand lang. Sie darf. Im Schritt geht es los, später folgen Trab und Galopp.

Pferd und Reiterin überschreiten Grenzen

Die kleine Frau und ihr kleines Pferd werden für die zufälligen Zuschauer hinter der Bande immer noch kleiner, wie sie da die ganze Hallenlänge entlangreiten – und zugleich auch immer größer. Denn auch wenn es keine große Reitkunst ist, die sie zeigen, gehen sie wie auch die Dressurreiterinnen mit ihren Sportpferden an Grenzen und überschreiten diese. Eins der Stallmädchen, das mit dem Besen in der Hand innehält und eine Weile zuschaut, bringt es auf den Punkt: „Bewundernswert“, sagt sie.

Für Silke Rauterberg ist Reiten „der Traum von Inklusion“. Machen, was alle anderen auch machen. So ist sie schon groß geworden. Sie habe eine ehrgeizige Mutter gehabt, die der Meinung gewesen sei, auch blinde Kinder hätten das Recht, sich die Gräten zu brechen, erzählt sie später, als die Ponys in den Boxen ihre Möhren mümmeln. Deshalb durfte sie früh aufs Pferd. Aber als die Mutter sagte: „Ich unterstütze deine Reiterei, wenn du auf Turniere fährst“, kniff die Tochter und lernte stattdessen Eiskunstlaufen, wofür sie sich heute ohrfeigen könnte, wie sie sagt. Das Reiten entdeckte sie erst Jahrzehnte später für sich – gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern.

Unsicherheit ist ihr keine Sekunde anzumerken

Den Reitlehrern, die sie bisher kennengelernt hat, sei sie dankbar für deren akzeptierende Haltung, sagt sie. Sie sind blind und wollen reiten?, sei zwar meist die erste skeptische Frage gewesen, aber dann hätten alle gemeint: Na, dann versuchen wir das mal.

2011 und 2012 kauften die Rauterbergs die Ponys, auf denen alle reiten. Beide Tiere kommen aus einem Stall in Niedersachsen, der die Ausbildung Kindern anvertraut, weil sich dabei der Charakter erweise. Und der ist für Silke Rauterberg das Wichtigste. „Die Ponys müssen sich überall gut anfassen lassen und klar im Kopf sein“, sagt sie. Eine besondere Ausbildung wie die Pferde der hochklassigen Reiter im Behindertensport haben sie nicht, das hätten sie sich als Normalverdiener im öffentlichen Dienst nicht leisten können. Sie sagt: „Ich verlasse mich darauf, dass das Pony nicht gegen die Wand rennt“, der Rest laufe über Gehör und Gefühl. Luftzüge, die sich verändern, wenn sie sich der Wand nähert, wenn sie zur Hallentür kommt, manchmal dudelt ein Radio, was Orientierung bietet, oder sie hört Pferdetritte und Reiter japsen. Unsicherheit ist ihr in der großen Halle keine Sekunde anzumerken.

Schmuseduo. Silke Rauterberg und ihr Pony Honeymoon Dancer.
Schmuseduo. Silke Rauterberg und ihr Pony Honeymoon Dancer.

© Ariane Bemmer

Und weil der Ehrgeiz, den die Mutter hochhielt, in der Tochter gedieh, ist sie in dieser Saison nun doch erste Turniere geritten. Dafür brauchte sie neun Helfer, „Caller“, die sich an den sogenannten Bahnpunkten des Dressurplatzes aufstellen, um ihr zu signalisieren, wo sie gerade ist. Die fand sie über einen Facebook-Aufruf. Zu ihrer Begeisterung. Es sei toll, dass so viele Menschen ihr helfen wollten. Auf den bisherigen Turnieren war sie die letzte Starterin, sagt sie, aber die einzige mit Blindenbinde über dem Jackettärmel und das lockt Zuschauer an. „Egal, wie schlecht ich reite, ich bekomme den meisten Applaus“, sagt Rauterberg und lacht.

Ihr Blindenhund begleitet sie in den Grunewald

Goya und Dancer haben ihre Möhren inzwischen aufgefressen. Bald werden sie auf die Sandpaddocks gestellt, die auf der innerstädtischen Reitanlage der bescheidene Auslauf für die Tiere sind. Das ist Silke Rauterberg auch bewusst, aber diesen Stall kann sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichen, was für wenige Ställe im Umland gilt. Sie räumt nun noch ihre Sachen weg, belädt sich mit Putzkoffer, Trense, Gerte, Helmtasche und steigt nah am Geländer die Treppen in den ersten Stock über der Halle hoch, wo die Aufbewahrungsschränke sind. Als endlich alles wieder an seinem Platz ist – Ordnung ist in ihrem Leben von zentraler Bedeutung –, holt sie ihren Blindenhund aus dem Aufenthaltsraum und macht mit ihm einen Spaziergang.

Sie müssen nur einmal unter der Avus hindurch, dann liegt der Grunewald vor ihnen. Den will sie demnächst auch auf dem Ponyrücken erkunden. Ausreiten sei kein Problem, sagt sie, es müsse nur jemand dabei sein, der viel redet, so dass sie sich akustisch orientieren könne. Und wenn die Ponys vor Freude mal einen Bocksprung machen, dann hält sie sich im Sattel oder fliegt eben runter. Genau so, wie es allen anderen Reitern auch ergehen würde.

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