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Berlin: Braucht Deutschland eine hauptstädtischere Hauptstadt?

Berlin kann aus eigener Kraft eine Aufwertung nicht schaffen, sondern ist auf die Förderung durch den Bund angewiesen/Von Dieter Grimm

Der Begriff der Hauptstadt eines Landes ist ausschließlich politisch definiert: Es ist die Stadt des Regierungssitzes. Die Eigenschaft einer Hauptstadt hängt folglich nicht davon ab, dass sie auch im Übrigen die herausragende Stadt ist. In diesem Sinn sind zum Beispiel Bern, Brasilia, Canberra, Pretoria Hauptstädte ihres Landes, nicht Zürich oder Basel, Rio de Janeiro oder São Paulo, Melbourne oder Sydney, Johannesburg oder Kapstadt. In diesem Sinn war auch Bonn Hauptstadt der alten Bundesrepublik.

Allerdings schwingt im Begriff der Hauptstadt oft die Erwartung mit, dass sie nicht nur in politischer, sondern auch in anderer Hinsicht der zentrale Ort ist, die größte Stadt und der bedeutendste Wirtschaftsstandort, Verkehrsknotenpunkt, kulturelles und wissenschaftliches Zentrum, Medienplatz, unter Umständen der Mittelpunkt des religiösen Lebens, jedenfalls das gesellschaftliche Zentrum, in dem der Trend gesetzt und über modern und unmodern entschieden wird, kurz die tonangebende Stadt eines Landes. In diesem umfassenderen Sinn ist Paris Hauptstadt und, etwas weniger, London.

Es ist freilich kein Zufall, dass diejenigen Staaten, in denen der Regierungssitz auch in dem umfassenderen Sinn die Hauptstadt bildet, Zentralstaaten sind, während Staaten, in denen die Regierung nicht in der wichtigsten oder einer der wichtigsten Städte sitzt, Bundesstaaten sind. Die Regel gilt natürlich nicht ohne Ausnahmen (Wien zum Beispiel), wohl aber lässt sich sagen, dass Hauptstädte in gewachsenen Bundesstaaten (wie Deutschland) nicht dasselbe sein können wie in Zentralstaaten. Da es viele verschiedene Zentren gibt, erreicht die Hauptstadt hier selten denjenigen Konzentrationsgrad an Leistungsvermögen eines Landes, der für Hauptstädte von Zentralstaaten charakteristisch ist.

Je tiefer der Föderalismus verwurzelt ist und je stärker die relative Autonomie der Gliedstaaten ist, desto mehr Substanz haben deren Hauptstädte und desto mehr Kräfte werden aufgewandt, um ihre Attraktivität im Vergleich mit der zentralen Hauptstadt zu erhöhen. Wenn es um Berlin als Hauptstadt geht, muss daher stets bedacht werden, dass es sich um die Hauptstadt eines traditionellen Bundesstaates handelt, der von Seiten anderer Städte seien es Landeshauptstädte wie Hamburg, München oder Dresden, seien es andere Zentren wie Frankfurt oder Köln - Konkurrenz erwächst.

Berlin ist - unter anderem aus diesem Grund - nie Hauptstadt in dem Sinn gewesen, in dem Paris oder London Hauptstädte sind. Aber es war als Hauptstadt des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus mehr Hauptstadt als heute, auch weit mehr als etwa Washington Hauptstadt der USA ist. Heute ist es zunächst Hauptstadt in dem engen Sinn des Regierungssitzes. Deswegen konzentrieren sich hier auch die meisten regierungsbezogenen Aktivitäten, namentlich die Verbände, Unternehmensrepräsentationen, Politikberatungsstellen, nicht unbedingt dagegen die politische Presse.

Berlin ist überdies Deutschlands größte Stadt. Es spielt als Kultur- und Wissenschaftsstandort eine hervorragende, wenn auch keine alles überragende Rolle. Es ist aber weder das wirtschaftliche Zentrum Deutschlands noch der Verkehrsmittelpunkt, wie man besonders am Flugplan ablesen kann, noch Medienzentrum, religiöses Zentrum, und dass es das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens sei, wohin alles drängt, was gesehen und gehört werden möchte, lässt sich ebenfalls nicht behaupten.

Die Frage lautet, ob Berlin hauptstädtischer werden sollte. Sie teilt sich in die Fragen nach dem Warum, dem Wie und in die Frage, wer gegebenenfalls dafür aufkommen soll. Dass Berlin (verstanden als seine Regierung und seine Bevölkerung) selber Interesse an einer Bedeutungssteigerung in jeder Hinsicht hat, kann unterstellt werden. Berlin unterscheidet sich darin nicht von anderen Städten. Da Berlin aber auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, die Kosten der Bedeutungssteigerung selbst zu tragen, muss man fragen, ob es Gründe gibt, dass die Bedeutungssteigerung eine Sache der Bundespolitik oder gar eine nationale Sache in dem Sinn sein kann, dass auch die übrigen Länder sie als in ihrem Interesse liegend zu begreifen vermögen. Die Gründe für die Bedeutungssteigerung müssen also nicht nur den Berlinern oder denjenigen, die sich aus politischen Gründen in Berlin aufhalten, sondern allen einleuchten.

Warum soll Deutschland wollen, dass seine Hauptstadt hauptstädtischer wird? Ich spiele ein paar mögliche Gründe durch.

Hebung des Ansehens der Bundesrepublik

Ein solcher Zusammenhang ist schwer nachweisbar. Die alte Bundesrepublik genoss ein beträchtliches Ansehen, das nicht unter der relativen Bedeutungslosigkeit von Bonn litt. Das Ansehen war aber durchaus durch die Vielfalt des Landes, namentlich die kulturelle Vielfalt (etwa des Musik- und Theaterlebens), mitbegründet. Umgekehrt leidet das Ansehen der USA nicht darunter, dass nicht New York seine Hauptstadt ist. Unabhängig von der Hauptstadtfrage trägt es aber zum Ansehen der USA bei, dass sie so etwas wie New York hervorgebracht haben.

Selbstdarstellungsinteresse des Staates

Die Kräfte und Talente eines Staates würden dann in seiner Hauptstadt tatsächlich gebündelt und symbolisch sichtbar gemacht. Das steht in gewissem Maß quer zur föderalen Struktur Deutschlands. Ein föderaler Staat kann sich nicht allein in seiner Hauptstadt darstellen. Die Selbstdarstellung muss immer auch auf Vielfalt und auf die Eigenart, Kraft, Lebendigkeit der Unterzentren verweisen. Das spricht nicht von vornherein gegen eine Verbesserung der Hauptstadtqualität von Berlin, aber es wäre falsch, sich am Muster der Hauptstädte von Zentralstaaten zu orientieren.

Identifikationspunkt für die Bevölkerung

Auch dieser Zusammenhang lässt sich schwer als notwendig hinstellen. Zwar gibt es Länder, in denen die Hauptstadt Gegenstand der Identifikation oder gar des Nationalstolzes ist. Ebenso sehr gibt es aber auch Länder mit hohem Identifikationsgrad der Bevölkerung wie die Schweiz und die USA, in denen diese Einstellung nicht an die Hauptstadt gebunden wird. Identität kann sich bei starken föderalistischen Traditionen sogar mit Hauptstadt-Abneigung verbinden.

Es ist meines Erachtens also nicht ganz leicht zu zeigen, dass das Ganze (aber nota bene eben das föderalistisch strukturierte Ganze) davon profitiert, dass seine Hauptstadt hauptstädtischer wird. Ganz besonders schwer begründbar wird dieses Ziel, wenn es mit einer Verringerung der Bedeutung der konkurrierenden Städte einhergeht oder als solche wahrgenommen wird. Man muss sich also möglichst vor Nullsummenspielen hüten. Das zieht der Bedeutungssteigerung enge Grenzen.

Am überzeugendsten scheint es mir unter diesen Umständen, beim Unbestreitbaren und Unerlässlichen anzusetzen: der Hauptstadt im politischen Sinn. Es muss im Interesse aller, auch der Bundesländer, liegen, dass die Regierenden am Regierungssitz gute Voraussetzungen für eine am Gemeinwohl orientierte, wohl informierte, konzeptionelle und vorausschauende Politik vorfinden. Das gilt ganz unabhängig davon, welche Partei gerade an der Macht ist und woher der Regierungschef stammt. Die Voraussetzungen einer solchen Politik sind vor allem kommunikativer Art. Wenn man Gelegenheiten schafft, dass die unterschiedlichen Eliten eines Landes die Hauptstadt als den gegebenen Ort ihrer Begegnung betrachten, wo sie aus ihren Zirkeln heraustreten und sich auf andere einlassen, wo sie in ihren Gewissheiten irritiert werden und sich Rat holen, wo sie mit den Bedürfnissen unterschiedlicher Funktionsbereiche und Gesellschaftsschichten in Berührung kommen, wo sie auf fremde Kulturen und Weltsichten treffen, dann kann daraus eine Steigerung des Leistungsvermögens der gesamten Gesellschaft, namentlich auch ihrer Politik, resultieren. Wie gesagt, als Chance begriffen, nicht als Eintrittsgewissheit.

Dafür muss Berlin seine Anziehungskraft verstärken, und das geschieht am besten dadurch, dass es seine schon vorhandenen Stärken (etwa die wissenschaftlichen und kulturellen) ausbaut und so Anreize schafft, die bislang weniger präsente Bereiche anlocken. Dazu gehören aber auch die symbolischen Formen, in denen das Potenzial seinen sinnfälligen Ausdruck findet. Das wichtigste symbolische Kapital, über das Berlin zur Zeit verfügt, ist der Schlossplatz. Wenn er bei Wiedererrichtung der historischen Schlossfassade vorwiegend kommerziell genutzt wird, ist dieses symbolische Kapital verspielt. Wenn er Berlins Fernkompetenz, seine Aufgeschlossenheit für andere Kulturen und Erfahrungswelten symbolisiert (wie durch die Aufnahme der Ethnologischen Sammlungen) und zum Treffpunkt von Politik und Gesellschaft wird, wäre damit ein bundespolitisches Zeichen, nämlich ein Zeichen über die Grundeinstellung der deutschen Politik, gesetzt, das sich für alle auszahlte.

Eine solche Aufwertung kann Berlin nicht aus eigener Kraft schaffen (und konnte es auch zu Zeiten, als es noch ein bedeutender Wirtschaftsstandort war, nicht). Sie muss von der Nation, kompetenzmäßig also von der Bundespolitik gefördert werden. Viel hängt folglich davon ab, ob der Bund sich für Berlin engagieren darf. Rechtlich scheint mir das möglich. Hauptstadtpflege ist eine natürliche Bundeskompetenz. Es wäre allerdings erheblich leichter, wenn die Hauptstadt nicht mehr gleichzeitig Bundesland wäre, Berlin-Förderung also nicht sofort den Protest der anderen Bundesländer hervorriefe. Auch aus diesem Grund ist die baldige Fusion von Berlin und Brandenburg erstrebenswert.

Dieter Grimm ist seit 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Der Jurist lehrt zudem an der Humboldt-Universität. Bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht.

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