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Berlin: Brigitte Dohrmann (Geb. 1939)

Ihrem Körper fehlt es an nichts. Seit sie im Koma liegt.

Von David Ensikat

Sie liegt im Bett, wohlgenährt. Die Haare voll und braun, die Haut schön und straff, beinahe faltenfrei, die Wangen rot. Erwacht sie, heben sich die Augenlider.

Die Augen bleiben starr. Sehen sie etwas?

Aus dem Mund ragt ein Schlauch, durch den die Nahrung in den Körper dringt, vier Mal am Tag, jeweils eine halbe Flasche einer braunen Flüssigkeit. Sie enthält all das, was der Menschenkörper braucht, um seine Funktionen aufrecht zu erhalten. Kohlenhydrate, Fette, Proteine, Vitamine. 1500 Kilokalorien am Tag. Brigitte Dohrmanns Körper fehlt es an nichts. Seit sie im Koma liegt. Seit dem 26. Dezember 1991.

Ihre letzte eigene Entscheidung: Ich esse nicht. Sie kam ins Krankenhaus, ein dürres Wesen, das nichts mehr zu sich nahm, das die Frühstückseier, die ihr serviert wurden, sammelte und auf dem Fensterbrett in eine Reihe legte.

In der Nacht zwischen dem ersten und dem zweiten Weihnachtsfeiertag fiel Brigitte Dohrmann aus dem Bett. Sie lag sechs Stunden am Boden, bei offenem Fenster, war unterkühlt, als man sie am Morgen fand. Sie zappelte, als man sie in eine Notdecke hüllen wollte. Eine Dosis Valium stellte sie ruhig, ließ die Retter ihr Retterhandwerk vollziehen.

Eine Rettung ins Koma. 16 Jahre, bis der Tod kam.

„Brigitte hat Neigung, ihre bezwingende Liebenswürdigkeit gleich Leistung zu setzen. Regsamkeit und Fleiß schwanken.“ Ihr Zeugnis aus der dritten Klasse.

Zehnte Klasse: „Brigitte ist willig und fleißig, in der Gemeinschaft anpassungsfähig und leicht leitbar.“

Sie war die Tochter eines Bankkaufmanns. Da die Zeiten, in denen Frauen gar keinen Beruf erlernten, vorüber waren, wurde sie Bankkauffrau.

Da die Zeiten, in denen Frauen Kinder bekommen dürfen, ohne verheiratet zu sein, noch nicht angebrochen waren, heiratete sie, als sie schwanger wurde.

Sie sah aus wie die Prinzessin im tschechischen Märchenfilm. Auf dem Hochzeitsfoto hält sie den Schleier mit den Fingerspitzen ihrer linken Hand, als habe der Fotograf sie darum gebeten, ihr wunderschönes Gesicht nur einmal kurz zu zeigen. Ein rundes Gesicht mit großen Augen, großer Nase, kleinem, fein geschwungenem Mund. Der Blick freundlich, nicht froh. Oben auf dem Schleier eine kleine weiße Krone, darunter das blondierte Haar, wie Doris Day es trug.

Das Foto ist in der Mitte gefaltet, zerbrochen, Braut und Bräutigam sind von der Falz getrennt. Vier Monate nach der Hochzeit, 1964, kam die Scheidung. Den Eltern, vor allem dem Vater, hatte der Bräutigam nicht gefallen. Ob er Brigitte je gefallen hatte, weiß niemand zu sagen. Sie tat, was die Eltern von ihr erwarteten; sie war, wie es im Zeugnis lobende Erwähnung gefunden hatte, „leicht leitbar“.

Ihr Sohn Andreas kam nach der Scheidung auf die Welt. Eine allein erziehende Mutter war Brigitte dennoch nicht. Schon eher war sie eine gar nicht erziehende Mutter. Eine gar nicht existente, um genau zu sein. Andreas wuchs bei seiner Großmutter auf. Die war so anders als Brigitte, ihre Tochter, so fest im Leben stehend, so stark, mehr leitend als leitbar. Es heißt, sie habe am Morgen des 23. Dezember 1939 an der Ladentheke gestanden, zur Mittagszeit Brigitte zur Welt gebracht und am Abend eine Gans ins Rohr geschoben.

Die Mutter liebte ihr einziges Kind, Brigitte. Sie tat alles für sie, übernahm nicht nur den Enkelsohn, sondern kümmerte sich auch um die Liebe. Eine schöne Frau wie Brigitte – das konnte doch so schwer nicht sein. Die Mutter lud Herrn Hinze zum Kaffee, den Filialleiter der Bank, bei der Brigitte arbeitete. Er mochte sie, kam immer wieder, über Jahre. „Und Mama“, erzählt der Sohn Andreas, „Mama ging jedes Mal ins Zimmer nebenan.“

Herr Hinze hatte Geduld, eine Chance hatte er nicht. Ebenso ließ Brigitte den Kriminalkommissar abblitzen, den ihr ihre Mutter vermitteln wollte. Mit dem, erinnert sich Andreas, ist er mal mit Blaulicht durch die Stadt gefahren. Immerhin.

Seine Mutter blieb allein und tat nichts, dies zu ändern. Sie zog um, aus der Wohnung, die sie seit der Hochzeit bewohnte, in eine, die den Eltern näher war. Ihre Mutter hatte ihr das empfohlen. Ebenso empfahl sie ihr: „Kind, hör bei der Bank auf. Das strengt dich zu sehr an. Du kannst im Laden helfen.

Brigitte war jetzt 35, der Tod ihres Vaters hatte sie tief getroffen. Und sie half manchmal im Geflügelgeschäft der Mutter aus. Selten. Sehr selten.

Was sie sonst tat? „Mama lag auf der Couch und starrte an die Wand.“ Natürlich kam dem Sohn das merkwürdig vor. Aber was soll ein Sohn denn tun?

Natürlich machte sich Brigittes Mutter Sorgen. Aber ob sie je von einer Krankheit namens „Depression“ gehört hatte, ist zweifelhaft. Sie sah das so: Brigitte bockt.

Brigittes Mutter arbeitete im Laden bis in ihr 87. Lebensjahr. Zu leben hieß für sie zu arbeiten, das war schon immer so, etwas anderes hatte sie gar nicht gelernt. Dem Enkel kochte sie jeden Tag in ihrer Mittagspause ein warmes Essen, denn warm zu essen, das gehört sich so. Brigitte, ihre Tochter, aß immer weniger. Brigitte bockte.

Und wurde immer schwächer. Andreas filmte sie mit seiner neuen Videokamera. „Guck mal, Mama, wie du aussiehst. Du läufst wie eine uralte, kranke Frau.“ Brigitte bekam einen Schreck. Appetit bekam sie nicht.

„Mama befand sich in einem Hungerstreik“, sagt der Sohn ratlos, „nur Forderungen hatte sie keine.“

Sie hatte ja alles. Geld von der Mutter. Hilfe von der Mutter. Liebe von der Mutter.

Es blieb die Hoffnung: Das geht vorbei.

Drei Wochen Nervenheilanstalt. Und es war nicht vorbei. Als Brigitte zu schwach zum Leben wurde, kam sie ins Krankenhaus, Weihnachten 1991. Sie war jetzt 52 Jahre alt. Fiel aus dem Bett. Fiel aus der Welt ins tiefe Koma.

Man schloss sie an Maschinen. Man untersuchte sie. Man wartete. Drei Monate lang. Bis es hieß, der Fall sei hoffnungslos, der Hirnschaden zu groß, der Körper zu schwach. Brigitte Dohrmann würde sterben, eher früher als später. Wenn man die Maschinen abstellte, würde man dieses Leben, das kaum noch eines sei, sofort beenden. Man stellte die Maschinen ab.

Und Brigitte atmete weiter, ganz von selbst.

Es war ein Hinübergleiten vom tiefen Koma in einen Zustand, den die Laien „Wachkoma“ nennen. Ein Erwachen war es nicht. Deshalb benutzen die Mediziner andere Wörter für diesen Zustand, „apallisches Syndrom“, „vegetativer Status“.

Brigitte lag drei Jahre lang im Krankenhaus. Ihre Mutter besuchte sie jeden Tag. Weil die Pflege dort zu teuer wurde – es handelte sich jetzt um einen Pflegefall, nicht mehr um einen für die Krankenkasse – entschied sich die Familie, Brigitte nach Hause zu holen. Und organisierte eine Betreuung, rund um die Uhr, die ein Krankenhaus so gut, so zugewandt kaum leisten kann. Alle drei Stunden die Lage wechseln, behutsam waschen, die Hand halten, da sein. Pfleger wurden eingestellt, die Mutter kümmerte sich um ihre Tochter, später dann der Sohn.

Manchmal, wenn sie im Nachbarzimmer war, glaubte die Mutter, Brigitte habe ein Wort gesagt. „Brigitte ist wach!“

Man hört von Fällen des Erwachens nach langer Zeit. Die Mediziner sagen, dass nach einem halben Jahr oder gar länger, ein Erwachen in ein Leben, das dem vorherigen ähnelte, so gut wie ausgeschlossen sei. Sie sagen: Die höheren Hirnfunktionen, die bewusste Wahrnehmung des Patienten, seiner selbst und seiner Umwelt, existieren nicht mehr. Die Vorsichtigeren fügen dem ein „höchstwahrscheinlich“ bei.

Brigitte öffnete am Morgen ihre Augen. Ihre rechte Hand war zur Faust geballt, manchmal, wohl wenn sie Schmerzen hatte, war die Faust ganz fest, verkrampft. Dann wieder lockerer. Hin und wieder entfuhr dem Mund ein Laut. Die Stirn zeigte Regungen. Die Pfleger, die Mutter, der Sohn sprachen mit Brigitte. Sie kämmten lange ihr Haar, sie streichelten sie. Sie waren sich sicher, dass etwas davon in Brigitte drang. In ihre Seele.

Dieser Mensch, das war doch mehr als nur sein Körper.

Brigitte Dohrmann dämmerte 16 Jahre in dem Zustand, den niemand definieren kann. In Pflegeeinrichtungen überleben solche Menschen selten mehr als vier, fünf Jahre. Jetzt ist sie gestorben, ganz von selbst. Eine Erlösung. David Ensikat

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