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Berlin: Bruderkuss und Klebstoff

Die Bastelszene entdeckt die Berliner Mauer – und baut sich die East Side Gallery aus Papier

Zsss, macht das Papiermesser, trennt sauber den „Sockel Ost“ aus dem Karton. Zsss, gleitet es am sozialistischen Bruderkuss vorbei. Liebkosungen soll man nicht grob unterbrechen, also aufgepasst, damit das Werkzeug nicht abrutsche, Breschnew das Ohrläppchen kupiere oder Honecker den Hals. Das hätte Dimitrij Vrubel nicht verdient.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die internationale Bastlerszene, die schon an Absonderlichem wie der Wolfsschanze Hand anlegte, den „sozialistischen Schutzwall“ für sich entdeckt, samt Wachturm, Checkpoint, Todesstreifen. Ein Anfang ist jetzt getan, aus freilich ehrenwerten Motiven: ein Bastelbuch, sechs Mauersegmente in Pappversion, im Original gestaltet von vier Malern – ein Teil der East Side Gallery. Mehr ein Kunstprojekt also, mit konservatorischem Anspruch: Ein Teil der Erlöse fließt der Künstlerinitiative East Side Gallery zu.

Vor dem 9. November 1989 war die Verteilung der Mauerfarben klar geregelt: Bunt der Westen, grau der Osten. Aber bald nach dem Tag der Tage begann sich dies zu verschieben: Besonders an der Westseite pickten die Mauerspechte, versessen auf kunterbunte Souvenirs; im Osten griff man zu Farbtopf und Spraydose. Entlang der Mühlenstraße in Friedrichshain wuchsen die Bildwerke binnen weniger Monate zu einem 1,3 Kilometer langen Gesamtkunstwerk zusammen: der East Side Gallery. Eine Zeit lang war das Berlins meistfotografiertes Freiluftmuseum, bis auch hier der Zahn der Zeit und neuzeitliche Vandalen zu nagen begannen. Höchste Zeit also, sich selbst ein Denkmal des Denkmals zu basteln, im handlichen Maßstab 1 : 40.

Vor einem halben Jahr hatte der von der Landschaftsplanung zum Modellbau gewechselte Andreas Seidel eine Mini-Variante der Mauer vorgestellt, wie sie heute wohl aussähe: über und über bedeckt mit amerikakritischer Politkunst (Näheres unter www.xzcute.com ). Für das Galeriemäuerchen taten sich Seidel, sein Mitautor Jürgen Schnirch und der Schikkus-Verlag zusammen, die das Bastelbuch über Souvenirshops, etwa am Checkpoint Charlie, im Bahnhof Zoo oder im Ostbahnhof, vertreiben.

Die Motive gehören zu den bekanntesten der East Side Gallery: Vrubels Bruderkuss, Birgit Kinders Trabbi, Thierry Noirs Köpfe und Kani Alavis Version der Maueröffnung. Drei gefalzte, geknickte, gerollte Bauelemente fügen sich zu je einem Mauerelement zusammen, für Fingerfertige nicht gerade eine Herausforderung. Eher vermittelt es einen Eindruck von der Mauermonotonie, dem grauen Einerlei, das sich hinter der Farbe verbarg. Originell, doch der Spaß des Formens reicht an den des Schauens bei weitem nicht heran. ac

East Side Gallery. Die Berliner Mauer – Bastelbogen. Schikkus Verlag Berlin, 2003. 5 Euro.

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