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Berlin: Carmen Weisse (Geb. 1927)

Das Schlüsselbund, Insigne von Freiheit und Macht.

Die Seidelstraße in Tegel, aus Mitte kommend: Linkerhand verläuft ein Weg, hinter dem sich flache Lauben erstrecken, geduckt unter Apfel- und Pflaumenbäumen, umschlossen von schmalen Rasenflächen und üppigen Blumenbeeten: die Kleingartenanlage „Kolonie am Waldessaum“. Rechterhand erhebt sich auf einer Fläche von 130 000 Quadratmetern eine Kette roter Backsteinbauten, umgeben von einer 1300 Meter langen Mauer: die Justizvollzugsanstalt Tegel, eine Anstalt des geschlossenen Vollzuges für männliche Strafgefangene. Carmen Weisse besaß ein Anstaltsschlüsselbund. Sie konnte, wann immer sie mochte, von der einen Welt in die andere wechseln.

Sie wusste, dass die Menschen draußen sich dieses Springen zwischen den Welten nur schwer vorstellen konnten. Aber die Probleme der Gefangenen, versuchte sie zu erklären, unterscheiden sich im Grunde nicht von unseren, zeigen sich, auf engstem Raum, nur stark vergrößert, wie unter einer Lupe. Die Inhaftierten haben Schwierigkeiten in der Ehe wie wir, Sorgen mit den Kindern wie wir, Ängste um die Zukunft wie wir. Sie brauchen Zuwendung, Gespräche, Hilfsangebote. Wie wir.

Es galt, das Vertrauen der Gefangenen zu erlangen. Das Schlüsselbund, Insigne von Freiheit und Macht, stand dem bisweilen im Wege. Aber Carmen Weisse ließ sich auf langwierige, unergiebige Diskussionen oder Streitereien nicht ein. Sie war kein „Gutmensch“, ein von den Gefängnisinsassen wie den Vollzugshelfern nur abfällig gebrauchtes Wort. Sie verbreitete keine Atmosphäre geheuchelter Barmherzigkeit. Die Gefangenen reagieren empfindlich auf jede Art von Mitleid, wollen einer glaubwürdigen Person, die sie ernst nehmen können und die sie ernst nimmt, gegenüber sitzen, einer wie Carmen Weisse.

Seit 1970 arbeitete sie ehrenamtlich im Strafvollzug, organisierte viele Jahre im Haus der Kirche, dem Bildungswerk der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Podiumsdiskussionen und Seminare, die sich mit der Resozialisierung von Straftätern beschäftigten. Sie beriet Menschen, die Vollzugshelfer werden wollten, im Grunde jedoch nicht die geringste Ahnung davon hatten, wie man mit Gefangenen umgeht, in der Einzelbetreuung mehr noch als in der Gruppenbetreuung.

Ab 1977 wurden die Anstaltsbeiräte eingeführt. Sie nehmen eine Mittlerposition zwischen den Gefangenen und der Justiz ein, ergreifen nicht Partei nur für eine Seite, vertreten die Öffentlichkeit und nehmen Anregungen und Wünsche der sozial isolierten Häftlinge entgegen, um sie der Anstaltsleitung vorzutragen. Während der monatlichen Beiratssitzungen äußerte Carmen Weisse ihre Meinung, ohne sich fügsam zu ducken, ohne Wenn und Aber. Die Anstaltszeitung „Der Lichtblick“ veröffentlichte einmal einen Beschwerdeartikel über den Beirat, der träge und tatenlos agiere. Im Beirat brach ein erbostes Stimmengewirr los. Nur Carmen Weisse wurde aktiv: Sie ließ das allzu strenge Urteil nicht auf sich sitzen und verfasste einen Brief an die Redaktion. Sie plapperte nie, sie handelte. Und erhielt dafür das Bundesverdienstkreuz.

Im Frühling dieses Jahres erschien sie nicht zu einer Beiratssitzung. Die anderen Mitglieder warteten, wunderten sich. Wenn etwas wäre, hätte sie doch abgesagt, darin stimmten alle überein. Carmen Weisse war zu einer regelmäßigen Vorsorgeuntersuchung ins Krankenhaus gegangen und dort geblieben.

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