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Berlin: Da geht’s lang

Die Richtlinien des Regierenden Bürgermeisters gelten als Kompass für die Politik des Senats. Am Donnerstag legt Klaus Wowereit neue vor

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Ernst Reuter ließ sich Zeit. Erst neun Monate nach der Abgeordnetenhauswahl 1950 legte der legendäre Regierende Bürgermeister seine Richtlinien zur Regierungspolitik vor. Er nahm diese Pflichtübung gegenüber dem Parlament, die verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist, wohl nicht besonders ernst. „Wir werden hier in Berlin ständig vor neue entscheidende Fragen gestellt, so dass ich annehme, dass es des Öfteren notwendig sein wird, Richtlinien vorzulegen“, sagte der SPD-Mann im September 1951 vor dem Abgeordnetenhaus.

Hauptaufgabe sei es, „die Stellung Berlins zum Bund zu festigen“ und als „gleichberechtigtes Land der Bundesrepublik Deutschland“ anerkannt zu werden. Finanziell, wirtschaftlich und sozial müsse die Stadt Anschluss an das Niveau des Bundesgebiets finden, forderte Reuter. „Wir haben immer betont, dass wir nicht zweitrangige Mitbürger Deutschlands sein wollen“.

Acht Jahre später, als der Regierende Bürgermeister Willy Brandt im Januar 1959 dem Parlament sein Regierungsprogramm vortrug, hatte sich die Lage der Stadt dramatisch zugespitzt. Brandt sprach von einer „neuen, entscheidenden Phase des Ringens um die Erhaltung unserer freiheitlichen Existenz“. Die Lösung der deutschen Frage sei unerlässlich, nicht nur wegen des Rechts der Deutschen auf nationale Selbstbestimmung, „sondern auch im Interesse der Entspannung in Europa und des Friedens in der Welt“.

Die Kommunalpolitik lief damals nebenher. Aus einer Trümmerwüste sei eine leistungsfähige Wirtschaft entwickelt worden und der städtische Aufbau habe rasche Fortschritte gemacht, merkte Brandt an. Eine „vermehrte Industrieansiedlung“ sei nötig, Berlin müsse weltoffen sein, „wir wollen den Fremdenverkehr steigern“. Ein großes Problem sei die Überalterung der Stadt. „Schon heute trägt eine nicht unbeträchtliche Zahl ausländischer Arbeitskräfte dazu bei, vorhandene Lücken zu schließen.“

Zwei Jahre später wurde der Westteil der Stadt eingemauert. „Berlin gehört zur Bundesrepublik Deutschland … Die Anwesenheit und Verantwortung der drei Schutzmächte garantieren unsere freiheitliche Existenz“, sagte der Sozialdemokrat Heinrich Albertz, als er dem Abgeordnetenhaus im April 1967 seine Regierungspolitik erklärte. Gleichwohl sei Berlin die „Brücke zum anderen Teil Deutschlands“ und suche Kontakte zu den Staaten und Völkern Osteuropas. Diese Bekenntnisse blieben bis zur Vereinigung Deutschlands unverzichtbare Formeln in allen Regierungserklärungen.

Dennoch rückten unaufhaltsam die innerstädtischen Probleme in den Vordergrund. Schon Albertz versprach eine „Straffung der Verwaltung“ und sein Nachfolger Klaus Schütz (SPD) erhob im April 1971 die „Sicherung eines wirtschaftlichen Wachstums, das der Expansion im Bundesgebiet entspricht“ zum Hauptziel der Senatspolitik. Schütz versprach eine Reform der Schulen und Universitäten. Die Studenten- und Jugendrevolte der sechziger Jahre zeigte Wirkung. „Demokratische Reformen sollen in möglichst vielen Bereichen verwirklicht werden.“ Vier Jahre später hielt der wiedergewählte Schütz auch die Sanierung der Finanzen für erwähnenswert. „Alle Möglichkeiten der Verbesserung der Haushaltslage müssen voll ausgeschöpft werden“. Als sich die Lage Berlins im Zuge der Entspannungspolitik weiter normalisierte, konnte der Regierungschef Dietrich Stobbe (SPD) im Mai 1979 vor dem Parlament die „bewusste Hinwendung zur Stadtpolitik“ proklamieren.

Dann kam Richard von Weizsäcker, und der prominente CDU-Mann setzte selbstbewusst eigene Akzente. „Der Senat wird den Wohnungsbau steigern, die Mieter vor überhöhten Mietpreisen schützen und jede Anstrengung zur Integration der Ausländer machen.“ Freien Trägern und Initiativen, der Nachbarschaft, der Familie und sozialen Diensten solle der Vorrang vor einer „zentralisierten Staatsgesellschaft“ gegeben werden. In Forschung und Lehre müsse „die Qualität der vorrangige Maßstab sein“, hieß es in Weizsäckers Richtlinien vom Juli 1981. Der geistige Rang Berlins, bezogen auf Bildung und Kultur, sei von entscheidender Bedeutung für die Zukunft.

Eine Wahl später, im April 1985, setzte der Christdemokrat Eberhard Diepgen die liberal-konservative Großstadtpolitik Weizsäckers auf seine Weise fort: Modernisierung der Wirtschaft, Sanierung der Landesbetriebe, Konsolidierung des Haushalts, eine „am Subsidiaritätsprinzip orientierte Sozialpolitik“, ausreichender Wohnraum, Gleichberechtigung von Auto- und öffentlichem Personennahverkehr. Das war Diepgens Botschaft ans Parlament. Der Zuzug von Ausländern solle begrenzt, aber die Einbürgerung erleichtert werden. Berlin, die Kulturmetropole mit hohem Freizeitwert, müsse „im Geiste von Weltoffenheit und Toleranz“ gestaltet werden.

Als Rot-Grün 1989 überraschend die Wahl gewann, kündigte der Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) im April 1989 mit seinen Richtlinien einen Kurswechsel an. Er versprach eine „ökologisch orientierte Stadtpolitik“. Busse und U-Bahnen, Fahrradfahrer und Fußgänger sollten Vorrang erhalten. Grundlage der Ausländerpolitik sei das „Bekenntnis zu einer multikulturellen Gesellschaft ohne Zwang zur Assimilation“. Die Autonomie der Hochschulen werde gestärkt, die Schulen würden demokratisiert.

Die Mauer fiel, Rot-Grün verlor die Wahl und Diepgen kehrte zurück. Im Februar 1991 konnte er als erster Regierender Bürgermeister vor dem Parlament verkünden: „Berlin ist die deutsche Hauptstadt. Sie muss Parlaments- und Regierungssitz werden.“ Der Senat strebe ein gemeinsames Land Berlin-Brandenburg an. Beide Teile der Stadt müssten schnell zusammenwachsen, neue Unternehmensansiedlungen seien zwingend notwendig. Aber Diepgen sagte auch: Berlin stehe finanziell vor einer „außerordentlich ernsten Situation“. Um den Ostteil der Stadt aufzubauen und der Aufgabe als Hauptstadt gerecht zu werden, „bedarf es der Hilfe durch den Bund“.

Bis die große Koalition 2001 zerbrach, änderte sich wenig am Senatsprogramm: Der Hauptstadtumzug, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West, die Finanz- und Wirtschaftsprobleme und die Pflege des „Zukunftskapitals“ Wissenschaft und Kultur blieben vorherrschende Themen. Als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) nach einer vorgezogenen Parlamentswahl im Februar 2002 seine Richtlinien formulierte, hob auch er die Hauptstadtrolle Berlins hervor, sprach von der „Werkstatt der Einheit“ und warb um die Solidarität des Bundes und der Länder.

Der Ausbau des Flughafens Schönefeld kam als neues Großprojekt hinzu. Und Wowereit kündigte ein hartes Sanierungsprogramm für den Haushalt an; der Senat wolle eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht prüfen und die skandalträchtige Bankgesellschaft werde saniert und verkauft. Der Bildungs- und Hochschulpolitik maß Wowereits einen hohen Stellenwert zu. „Berlins Zukunft liegt in den auf Wissen basierenden Wirtschaftszweigen.“ Er versprach mehr Ganztagsschulen, mehr Sprachförderung, mehr Hilfen für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Die Integration von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen, die das Bild einer „lebendigen, weltoffenen und toleranten Metropole“ prägten, müsse erleichtert werden. Auch die Vielfalt der Kultur sei eine wesentliche Zukunftsressource.

Wenn Wowereit am Donnerstag neue Richtlinien der Regierungspolitik vorlegt, wird das nichts daran ändern, dass es seit 55 Jahren in der Politik für Berlin verlässliche Konstanten gibt: Berlin und die Nation. Berlin, die internationale Stadt. Der Ausgleich zwischen Ost und West. Die soziale Balance. Bildung, Wissenschaft und Kultur als wichtigster Rohstoff der Stadt. Eine schwächelnde Wirtschaft, fehlende Finanzkraft – und trotzdem immer ein Schuss Optimismus.

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