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Berlin: „Das solche Zustände in Deutschland möglich sind, ist ein Skandal“ Geschwüre, Abszesse, Stürze: Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle des Klinikums am Urban, wird täglich mit Betreuungsmängeln konfrontiert

Es ist ein Fotoalbum, das niemand gerne sehen möchte. Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle des Vivantes Klinikum am Urban in Kreuzberg, zeigt es trotzdem – um deutlich zu machen, wie Pflegemängel aussehen.

Es ist ein Fotoalbum, das niemand gerne sehen möchte. Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle des Vivantes Klinikum am Urban in Kreuzberg, zeigt es trotzdem – um deutlich zu machen, wie Pflegemängel aussehen. In dem blauen Ordner sammelt er Bilder von pflegebedürftigen Patienten, die in den vergangenen Jahren ist seine Abteilung gebracht wurden. Fotos von Druckgeschwüren finden sich darin, Bilder von unbehandelten Abszessen oder auch von Menschen, die den Eindruck machen, tagelang nicht gewaschen worden zu sein.

Herr de Ridder, zeigen diese Bilder Probleme, mit denen Sie tagtäglich konfrontiert werden?

Manche dieser Fälle sind Extreme. Doch wir müssen täglich Menschen aufnehmen, weil ihre Pflege sie krank gemacht hat. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das jährlich rund 260 Milliarden Euro in sein Gesundheitssystem investiert, und in dem dann trotzdem solche Zustände möglich sind. Das ist ein Skandal.

Was sind die häufigsten Pflegemängel, mit denen sie konfrontiert werden?

Druckgeschwüre, Unterernährung, Flüssigkeitsmangel, Depressionen. Auch die Folgen von Stürzen müssen wir häufig behandeln. Diese haben übrigens nicht selten Medikamente als Ursache. Pflegeheimbewohner, die zehn oder zwanzig Präparate gleichzeitig erhalten, sind nicht schwer zu finden und besonders die häufig verschriebenen Entwässerungs-, Blutdruck- oder Beruhigungsmittel können zu Schwindel und dann Stürzen führen. Auch Infektionen durch Blasenkatheter oder Magensonden zur künstlichen Ernährung begegnen wir häufig – und das, obwohl die übergroße Mehrheit der 140 000 Pflegebedürftigen, die über einer Ernährungssonde versorgt werden, mit der nötigten Hilfe selbst Essen und Trinken könnten.

Warum werden dann so viele Sonden gelegt?

Für manche Heime ist eine solche Maßnahme bei Zeit- und Personalmangel schlicht der einfachere Weg. Eine große Zahl von Bewohnern mit Magensonden kann deshalb ein Hinweis auf mangelnde Pflegequalität sein. Mein Vorwurf gilt hier besonders manchem meiner Kollegen, die die Indikation zur Anlage einer Ernährungssonde bei weitem nicht streng genug stellen. Implantiert werden die Sonden dann von Gastroenterologen in Kliniken, und die verlassen sich häufig auf die Entscheidung eines nur kurz ins Heim bestellten Kollegen. Es kann aber nicht sein, dass Klinikpersonal – ohne zu prüfen – derart heikle Auftragsarbeiten erledigt.

Hat sich an der Gesamtsituation in den letzten Jahren etwas geändert?

Die Menschenrechtskommission des Bundestages hat bereits 2003 festgestellt, dass in der deutschen Altenpflege „strukturelle menschenrechtliche Defizite“ bestehen und eine „flächendeckende Gewährleistung der diskriminierungsfreien menschenwürdigen Grundversorgung“ nicht gewährleistet ist. An dieser Situation hat sich, wie der jüngste Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zur Qualität der Heimpflege zeigt, wenig geändert.

Was könnte getan werden, um die Situation zu verbessern?

Ein erster Schritt wäre die Beschäftigung eines Arztes. Ob er fest angestellt wird, oder auf Vertragsbasis arbeitet, ist nachrangig. Entscheidend ist, dass er die Heimbewohner und ihren Zustand kennt und regelmäßig Besuche unternimmt. Bislang verfügen allerdings nur rund 15 Prozent aller Heime in Berlin über einen eigenen Arzt – das ist ein finanzielles Problem.

Ein eigener Heimarzt muss extra bezahlt werden.

Natürlich. Auf der anderen Seite könnten Pflegeheime mit einem Arzt aber auch Geld sparen. Wenn ein Mediziner im Hause ist, kann das Heim eine eigene Apotheke betreiben. Dann müssen nicht mehr für jeden Patienten die Medikamente einzeln und teuer eingekauft werden. Darüber hinaus könnten Ärzte die Zahl der Einlieferungen in ein Krankenhaus um ein vielfaches reduzieren. Derzeit sind 80 Prozent aller Einweisungen durch nicht medizinisch geschultes Personal völlig überflüssig. Dadurch entstehen enorme vermeidbare Kosten; und einem pflegebedürftigen Menschen tut man mit einem Transport auch nichts Gutes.

Welche Vorteile versprechen Sie sich durch die Heimärzte noch?

Ein Arzt könnte mit dafür sorgen, dass das Übermaß an Pflegedokumentation, das ganz zu Lasten der eigentlichen Pflege geht, eingeschränkt wird. Andererseits fehlen bei Klinikeinweisungen eines Pflegebedürftigen oftmals wichtige Informationen, wie zum Beispiel die Dokumentation des Krankheitsverlaufs, der Wünsche oder Befindlichkeiten des Pflegebedürftigen oder auch nur die Adressen von Angehörigen.

Das Gespräch führte Moritz Honert

Michael de Ridder ist Leitender Arzt der Rettungsstelle des Vivantes Klinikum am Urban in Kreuzberg. Zuvor war er unter anderem 15 Jahre als Notarzt tätig, vielfach auch in Pflegeheimen.

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