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Nicht alle Fälle schaffen es bis zur Polizei: Viele Betroffene bringen erlebten Antisemitismus erst gar nicht zur Anzeige.

© AFP / AFP / Christoph Soeder

„Das Verfahren kann sehr zäh und belastend sein“: Warum antisemitische Vorfälle sich häufen – aber selten angezeigt werden

80 Prozent der von Antisemitismus Betroffenen verzichten in Berlin auf eine Strafanzeige. Die Dunkelziffer steigt.

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Die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt – doch viele Betroffene unterlassen es, nach Bedrohungen, Angriffen oder Sachbeschädigungen eine Anzeige zu stellen. So wie Yorai Feinberg, Besitzer des Berliner Restaurants Feinberg’s. In seinem Lokal wurden Anfang Juli an den Wänden hängende Fotos zerstört, auf denen jüdische Kinder abgebildet waren. Bereits in den Jahren zuvor war Feinberg immer wieder antisemitisch beschimpft und bedroht worden, vor seinem Lokal und im Internet. 

Nach dem jüngsten Vorfall entschied er sich, keine Strafanzeige zu erstatten, da diese nichts bringen werde, wie er dem Tagesspiegel mitteilte. Er habe bereits in den Jahren zuvor etliche Anzeigen erstattet – ohne Ergebnis. Auch wenn die Personen hinter Online-Profilen ausfindig gemacht wurden, von denen aus er bedroht wurde, sei nichts passiert. Das sei deprimierend.

Eine Resignation, die Samuel Salzborn, der Antisemitismusbeauftragte Berlins, „nur zu gut“ verstehen kann. Trotz aller öffentlichen Stellungnahmen gegen Antisemitismus stünden Jüdinnen und Juden im konkreten Fall oft allein da, sagt er.

Das Verzichten auf Strafanzeige ist kein Einzelfall

„Wir wissen aus Studien, dass etwa 80 Prozent der Betroffenen selbst schwerwiegende antisemitische Vorfälle gar nicht erst anzeigen“, sagt Claudia Vanoni, die vor vier Jahren das damals neu geschaffene Amt der Antisemitismusbeauftragten der Generalstaatsanwaltschaft Berlin übernommen hat. Ihre Amtszeit endete in dieser Woche. „Wir als Strafverfolgungsbehörden kennen nur die Spitze vom Eisberg“, sagt sie, „das kann und darf uns nicht genügen.“

Dass antisemitische Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht werden, sei „absolut kein Einzelfall“, erklärt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, RIAS. Sie zählte im Jahr 2019 noch 886 Fälle, vergangenes Jahr waren es 1052. Grund für die oft ausbleibenden polizeilichen Strafanzeigen sei unter anderem der bürokratische Aufwand im Verhältnis zu den geringen Chancen einer erfolgreichen Ermittlung: „Das Verfahren kann sehr zäh und belastend sein“, erklärt die RIAS. „Auch die Sorge um die eigene Sicherheit kann eine Rolle spielen, dass zum Beispiel der Täter personenbezogene Informationen erhalten könnte oder diesem vor Gericht begegnet.“ 

Warum es trotzdem wichtig ist, Vorfälle zu melden

Der Umgang der Polizei sieht die RIAS ebenfalls als Problem. Es sei vorgekommen, dass Beamt:innen bei der Aufnahme der Strafanzeige den antisemitischen Gehalt des Vorfalls in Abrede gestellt haben. Einige Betroffene hätten das Vertrauen in die Polizei verloren.

Manche antisemitische Vorfälle sind juristisch zudem schwer zu greifen, wie Claudia Vanoni von der Generalstaatsanwaltschaft sagt: „Zum Beispiel, wenn eine Frau in einem Taxi Hebräisch spricht und der Taxifahrer deshalb sagt: ,Ich nehme dich nicht weiter mit.‘“ So etwas sei mit dem Strafrecht nicht greifbar, aber ganz klarer Antisemitismus. „Und das erleben Jüdinnen und Juden jeden Tag.“ 

Samuel Salzborn findet es dennoch wichtig, antisemitisch konnotierte Vorfälle zu melden. Antisemit:innen hätten meist autoritäre Charakterstrukturen, sodass ein Ausbleiben strafrechtlicher Verfolgung sie darin ermutigen könnte, weitere Taten zu begehen. „Insofern ist Strafverfolgung auch indirekt ein Teil langfristiger Prävention.“ Die Meldestelle RIAS betont ebenfalls die Wichtigkeit einer Anzeige, auch wenn die Ermittlung ohne Erfolg bleiben könnte. Angesichts des großen Dunkelfelds antisemitischer Vorfälle sei es notwendig, die Realität besser abzubilden, indem die Vorfälle in der Polizeistatistik unter politisch motivierter Kriminalität verzeichnet werden. 

Neben einer Sensibilität bei Strafverfolgungsbehörden, die sich zum Beispiel in der Möglichkeit ausdrückt, das Strafmaß bei Taten mit antisemitischen Motiven zu erhöhen, ist für Salzborn besonders die Stadtgesellschaft gefragt. „Wir brauchen jeden einzelnen Bürger, jede einzelne Bürgerin, die sich im Alltag gegen Antisemitismus stellen, im Beruf, in der Schule, der U-Bahn, der Kneipe.“

Salzborn setzt auf Bildung und Aufklärung. Antisemit:innen, die „zunächst einzelne, nicht verfestigte Ressentiments“ aufzeigen, müsse man immer wieder zu überzeugen versuchen.

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