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Update

Demonstranten: "Sarrazin, halt's Maul!" - vor fünf Jahren

Vor fünf Jahren protestierten rund 100 Menschen vor dem Gebäude der Bundespressekonferenz gegen Thilo Sarrazin und die Vorstellung seines neuen Buchs . "Kein Podium für geistige Brandstifter", appellierten die Demonstranten. Was Janina Guthke, Maris Hubschmid und Sabine Beikler darüber schrieben.

Von
  • Maris Hubschmid
  • Sabine Beikler

Es ist der Tag der klaren Ansagen: "Halt's Maul", steht auf einem handgemalten Plakat, das ein junger Mann im grauen Kapuzenshirt am Montagmorgen vor dem Haus der Bundespressekonferenz in die Höhe hält. Es zeigt ein simples, bemerkenswert treffendes Porträt Thilo Sarrazins, des Mannes, der in ein paar Minuten nur wenige Meter entfernt im Innern des grau-stählernen Betonklotzes sein neues Buch präsentieren wird. Etwa 100 Menschen haben sich an diesem Wolken verhangenen Spätsommertag im Berliner Regierungsviertel eingefunden, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. "Hau ab, Thilo, und behalt den Dreck für dich" prangt auf einem Button am Mantel einer 24-jährigen Studentin. "Dem gehört doch echt der Mund verboten", sagt sie wütend. "Jeder Satz von Sarrazin ist für Ausländer ein Schlag ins Gesicht".

Seit Wochen steht der ehemalige Berliner Finanzsenator, SPD-Mitglied und Mitglied im Vorstand der Bundesbank, wegen seiner Thesen zur Integration von Muslimen im Fokus der Öffentlichkeit. Kritiker werfen ihm vor, Zuwanderer pauschal zu diskriminieren. In seinen Reden hatte der 65-Jährige unter anderem gesagt, Migranten würden mehr Kosten verursachen als Nutzen bringen. Mit Äußerungen über Juden hatte Sarrazin die Debatte am Wochenende zusätzlich angefacht.

"Dass das Buch überhaupt ausgeliefert worden ist, ist beschämend", sagt Dirk Stegemann, Sprecher des Bündnisses "Rechtspopulismus stoppen!". Seine Initiative hat die Protestkundgebung organisiert. Auch die Buchhandlungen sieht der 43-Jährige in der Verantwortung - denn Rassismus als Verkaufsschlager, das sei wirklich daneben. Jeder Bürger tue gut daran, die vertreibenden Läden zu boykottieren, das findet auch Erdmute Orthmann aus Lichterfelde. Gemeinsam mit ihrem Mann ist sie heute zum Schiffbauerdamm nach Mitte gekommen, weil sie frühzeitig handeln möchte. "Im Dritten Reich hat auch alles klein und scheinbar harmlos angefangen", sagt die Rentnerin. "Rechtspopulistische Äußerungen gehören im Keim erstickt."

Zwei Dutzend Polizisten begleiten die Kundgebung an der Spree, sie sind gelassen, die Demonstranten friedlich. Zwei Protestler in gelbgrünen Signalwesten verteilen "Intelligenz-Gene" im Auftrag der "Sarrazin Pharma AG". Die Wartenden nehmen die Smarties gern entgegen. Fahnen der Linken und der Grünen werden geschwungen, aus den Lautsprechern des Verdi-Wagens tönt laute Musik. Die Sweatshirts der Initiative tragen den Aufdruck: "Kein Podium für Nazis! Null Prozent bei den Wahlen Berlin 2011".

Sarrazin selber bekommt niemand zu Gesicht, dafür steht plötzlich, kurz vor Beginn der Pressekonferenz, Michel Friedman in der Menge. Es ist das einzige Mal, dass sie unruhig wird, denn nun stürzen sich Journalisten und Fotografen auf den ehemaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden und wünschen sich "ein persönliches Wort an Herrn Sarrazin". Dazu lässt Friedman sich nicht hinreißen, und trotzdem greift er Sarrazin scharf an. "Wir brauchen Brückenbauer in Deutschland, und keine Hassprediger. Wir müssen und wir wollen alle miteinander leben, und Beleidigung ist dafür nicht förderlich."

Deutlichere Worte noch findet Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland, er wirft Sarrazin "intellektuellen Rassismus" vor. Und appelliert an die SPD-Führung: "Dieser Mann muss raus, ohne wenn und aber. Sarrazin muss ausgeschlossen werden."

Unter den Demonstranten an diesem 30. August ist auch Ibrahim Arslan, 25. "Ich bin mehrfach Opfer rechter Gewalt geworden", sagt der junge Mann mit den großen braunen Augen und zeigt eine große Narbe auf seiner linken Wange. Beim ersten Mal, da war er gerade sechs Jahre alt, es war der 23. November 1992, der so genannte "Mordanschlag von Mölln". Rechtsextremisten hatten damals zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser angezündet. "Ich habe in dieser Nacht meine Schwester, meine Cousine und meine Oma verloren", sagt Arslan und senkt den Blick. "Ich möchte alles tun, damit kein Zweiter Soetwas erleben muss".

Die heutige Veranstaltung steht unter dem Motto "Kein Podium für geistige Brandstifter". Arslan hofft, dass sie ein Zeichen setzt. Und natürlich, dass die Botschaft ankommt: "Was Sarrazin macht, ist falsch".

Sarrazin weist Merkel-Kritik zurück

In seinem jüngst erschienenen Buch wirft Sarrazin muslimischen Migranten vor, sich nicht in die Gesellschaft integrieren zu wollen und mehr Kosten zu verursachen, als Nutzen zu bringen. Im Tagungszentrum der Bundespressekonferenz sagte er: „Ich bin ein Gestaltungsoptimist und glaube an den öffentlichen Diskurs. Wäre es anders, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben“.

Er nutzte die Gelegenheit die Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) indirekt zurückzuweisen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frau Merkel das Zeitbudget hat, dass sie schon meine 464 Seiten gelesen hat. Und schon daraus verbietet sich jeder Kommentar einzelner Wertungen", sagte Sarrazin. Er sehe sich durch die Meinungsfreiheit in Deutschland gedeckt. "Und ich weiß positiv, dass ich in meiner Eigenschaft als Bundesbankvorstand keine dienstliche Obliegenheiten verletzt habe. Insofern sehe ich auch ziemlich gelassen in dieser Frage in die Zukunft."

SPD

Diskussion um Parteiausschuss

Schon eine Stunde bevor Thilo Sarrazin begann, sein Buch vorzustellen, tagte bereits das Präsidium der SPD im Willy-Brandt-Haus. Sechzig Minuten lang berieten die Mitglieder über den Fall Sarrazin, dann stand fest: Es wird ein Parteiordnungsverfahren eingeleitet. Dessen Ziel: Ausschluss aus der Partei. Der SPD-Parteivorstand beriet sich gleich im Anschluss – und bekräftigte den zuvor gefassten Beschluss. Nun muss auch die Kreisschiedskommission in Charlottenburg-Wilmersdorf über einen Parteiausschluss beraten, denn dort ist Sarrazin als Mitglied registriert. Am 6. September dann will der Landesvorstand der Partei darüber debattieren. Der SPD-Landes- und Parteichef Michael Müller begrüßt das Parteiordnungsverfahren „auf das Schärfste“. Müller geht davon aus, dass sich der Vorstand dem Antrag anschließen wird. Sarrazin habe mit seinen Äußerungen „den Punkt überschritten, in dem man noch eine Rüge erteilen könnte“. Der frühere Finanzsenator und heutige Bundesbank-Vorstand habe bei einem früheren Parteiordnungsverfahren nach einem umstrittenen Interview mit der Kulturzeitung „Lettre International“ schon einmal die „dunkelgelbe Karte“ erhalten, sagte Müller. „Aus Sicht des Landesverbandes ist jetzt die Grenze erreicht.“

Sarrazin habe mit seinen Äußerungen "den Punkt überschritten, in dem man noch eine Rüge erteilen könnte". Sarrazin habe mit seinen Positionen "bewusst provozieren wollen und anti-sozialdemokratische Forderungen aufgestellt." Der frühere Finanzsenator und heutiger Bundesbank-Vorstand habe bei einem früheren Verfahren nach einem umstrittenen Interview mit der Kulturzeitung "Lettre International" schon einmal die "dunkelgelbe Karte" erhalten, sagte Müller. "Aus Sicht des Landesverbandes ist jetzt die Grenze erreicht."

Sarrazin bediene Überfremdungsängste, sagte Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky auf dem Fernsehsender Phoenix. Gerade in einem schwierigen Bezirk mit vielen Problemen brauche er Partner wie die Stadtteilmütter. Die würden jedoch nicht mitmachen, wenn man Sie vor den Kopf stoße. Dennoch sprach sich Buschkowsky gegen einen Parteiausschluss aus. Man könne solche Themen nicht totschweigen. Jetzt einfach nicht mehr mit Sarrazin zu reden, bringe nichts. Die Idee finde er schade, sagte Buschkowsky.

Siemens-Chef Peter Löscher hat vor negativen Folgen des Wirbels um die Thesen von Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin für die Wirtschaft gewarnt. „Schon jetzt hat die Debatte dem internationalen Ansehen des Standortes Deutschland mit Sicherheit geschadet“, sagte Löscher dem Tagesspiegel (Dienstagausgabe). So könnten ausländische Fachkräfte von einem Wechsel nach Deutschland abgeschreckt werden, was die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verringere. „Ein Klima der Toleranz ist Grundvoraussetzung, um die besten Köpfe der Welt für Deutschland zu gewinnen“, sagte Löscher. Das betrachte er auch als sein persönliches Anliegen. Siemens, einer der größten deutschen Arbeitgeber, stehe für Weltoffenheit und Internationalität.   (mit ddp/dpa/AFP)

Der Beitrag erscheint in unserer Rubrik "Vor fünf Jahren"

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