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Berlin: Den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt

Verwahrlosung ist Ausdruck der Chancenlosigkeit in „Arbeitslosenvierteln“ – sagen Soziologen

Sie mischen sich nicht mehr ein, wenn eine Flasche gegen die Wand geschleudert wird. Sie schauen weg, wenn der Sprayer farbige Spuren an der Hauswand hinterlässt. Sie sind gleichgültig, weil sie sich selbst auch von der Gesellschaft vergessen wähnen: ausgegrenzt und ausgeschlossen. Denn alle anderen, die es sich leisten konnten, sind schon weggezogen. Und wer in diesem „Looser-Klima“ noch leben muss, „der hat innerlich gekündigt, auch der Gesellschaft“, sagt Hartmut Häußermann.

Der Stadtsoziologe erklärt so eine Entwicklung, die in einigen Teilen von Neukölln, von Wedding und von Moabit zu erwarten ist. Zwar könnten die Sozialarbeiter im Dienste des Quartiersmanagements diese Entwicklung bremsen. Ganz aufzuhalten sei sie durch deren wichtige Arbeit allerdings nicht.

Denn die eigentliche Ursache für das Abkippen eines Kiezes sei eine völlig neue Zeiterscheinung: Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Gruppe von Langzeitarbeitslosen, die ohne ausreichende Sprach- und Kommunikationskompetenz von der Dienstleistungsgesellschaft ausgeschlossen sei. Die Chancen dieser Menschen auf einen Job seien deshalb minimal. „Und wenn sie Arbeit finden, dann ist sie so schlecht bezahlt, dass sie lieber nicht arbeiten“, sagt Häußermann.

Noch, sagt der Soziologe, habe dieses Phänomen „keine epidemischen Ausmaße“ in den Berliner Stadtquartieren angenommen. Die Diagnose des Wissenschaftlers ist aber dennoch beunruhigend: „An die Stelle von Arbeitervierteln treten Arbeitslosenviertel“, sagt Häußerman. Und im Unterschied zum roten Wedding von einst gebe es in einem Arbeitslosenviertel von heute nicht mehr das gemeinsame Klassenbewusstsein, das den Menschen Selbstsicherheit und Gemeinschaftserfahrungen verleihe.

„In diesen Quartieren ist auch die Nachbarschaft überfordert“, sagt Häußermann. Die sanfte soziale Kontrolle, die für bürgerliche Bezirke typisch ist, gibt es hier nicht mehr. „Einen Streit zu schlichten, Kommunikation zu organisieren, das übernimmt dann das Quartiersmanagement“, sagt Häußermann.

Die „Stadtquartiere sind der Austragungsort der Probleme, aber nicht deren Ursache“, sagt der Soziologe Bernd Hunger. Auch Hunger schränkt ein: Die Probleme in Berlin hätten nicht auch nur annähernd die Dimension wie etwa in Paris, wo vor etwa einem Jahr die Vorstädte brannten. Dass es in Berlin nicht so weit gekommen ist, liege an der „Allianz der Akteure in den Problembezirken“, so Hunger. Kommunale Wohnungsbaugesellschaften, private Hauseigentümer, Geschäftstreibende sowie Quartiermanager hätten durch ihre Initiativen die sozialen Risse immer wieder kitten können.

„Vor allem deshalb brauchen wir auch die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften“, sagt Häußermann. Die landeseigenen Unternehmen sowie der soziale Wohnungsbau hätten es erlaubt, die Menschen mit weniger Kaufkraft auf verschiedene Stadtteile zu verteilen. Diese „Mischung“ der Bevölkerung stelle sicher, dass soziale Kontrolle und Nachbarschaft erhalten bleiben.

Das habe bisher auch die Entstehung von Ghettos wie in Teilen der USA verhindert. Der freie Markt schaffe dort zwar auch billigen Wohnraum, überlasse die Quartiere aber sich selbst. Ohne Investitionen verfielen die Häuser, und das verschärfe die sozialen Probleme.

Beunruhigend ist Häußermann zufolge, dass die Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs auch künftig den Langzeitarbeitslosen keine neuen Jobs verschaffen. „Das ist das Problem dieser Stadt“, sagt Häußermann. Das „harte Schicksal“ dieser Menschen liege darin, dass sie scheinbar keinen Ausweg aus ihrer Lage hätten. Denn: „Früher waren die Jobs für schlecht ausgebildete Menschen der Massenarbeitsmarkt. Doch den gibt es heute nicht mehr“, so Häußermann. Dadurch drohe ein Teil der Bevölkerung durch das Raster zu fallen.

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