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Berlin: Der große Lauschangriff

Seit Jahren boomt in Deutschland die Hörbuchbranche – nirgendwo gibt es so viele Produzenten wie in Berlin

Beim letzten Mal war das Gedränge noch schlimmer als in all den Jahren davor. Tausende Interessierte verstopften im Herbst 2006 auf der Frankfurter Buchmesse die schmalen Gänge von Halle 4.1. Der Abteilung, in der die Hörbuchverlage sich und ihr Programm vorstellten. Allein die Anzahl der Aussteller am Gemeinschaftsstand der Hörbuchverlage war auf 70 angewachsen. Zu den Anfängen um das Jahr 2000 herum waren es weniger als 30.

Die Situation ist ein Abbild der Entwicklung des Marktes. Während die Umsätze der Musikindustrie seit Jahren einbrechen, feiert die Hörbuchbranche jedes Jahr eine erneute Umsatzsteigerung. 2001 betrug der Marktanteil von Hörbüchern – darunter werden sowohl Lesungen als auch Hörspiele verstanden – am Tonträgermarkt noch 0,9 Prozent. Seitdem ist der Umsatz jedes Jahr gewachsen. 2005 verzeichnete der Sektor bereits einen Marktanteil von 5 Prozent, was einem Gesamtumsatz von rund 75 Millionen Euro entspricht. So soll es weitergehen: „Für 2006 rechnen wir mit einem Wachstum von noch einmal rund 20 Prozent“, sagt Stefan Michalk, stellvertretender Geschäftsführer des Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft.

Rund 500 Hörbuchverlage gibt es in Deutschland, schätzt Simone Mühlhauser vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Mehr als 50 davon sitzen in Berlin – so viele wie sonst in keiner anderen Stadt in Deutschland.

Einen davon leitet Oliver Rohrbeck. Seit rund 20 Jahren ist er als Sprecher und Regisseur in der Branche tätig. Zu seinen berühmtesten Rollen zählt die des Jungdetektivs Justus Jonas aus der Krimi-Reihe „Die drei ???“. Seit 2003 betreibt er in Berlin die „Lauscherlounge“. Als Veranstalter von Live-Hörspielen gestartet, produziert die Firma seit 2005 auch eigene CDs. Vier Hörspiele und eine Lesung sind inzwischen erschienen. Sechs Leute beschäftigt Rohrbeck, bis Ende des Jahres sollen es neun sein. Derzeit baut er an einem eigenen Studio in Kreuzberg, in dem die Firma künftig auch für Dritte produzieren will. Eine Hörspiel-Soap mit dem Titel „Das Leben ist kein Ponyhof“ sei schon in trockenen Tüchern. Dass in der Hauptstadt so viele Hörspiele produziert werden, wundert ihn nicht. „In Berlin gibt es viele Aufnahmestudios.“ Auch die Nähe zur Filmbranche sei von Vorteil: Oftmals würden Synchronsprecher oder Schauspieler für Hörbücher verpflichtet.

Ein Hörspiel kostet bei Kleinproduktionen rund 15 000 Euro, schätzt Rohrbeck. Reine Lesungen ohne Musik und Effekte seien billiger zu realisieren. Zwar müssten dabei erst die bei bekannten Autoren relativ teuren Rechte erworben werden, insgesamt ließen sich solche Produkte aber durchaus für 8000 bis 12 000 Euro bewerkstelligen – in guter Qualität. Kein Vergleich zu den Mitteln, die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für ihre Hörproduktionen zur Verfügung stehen. Das sich über 24 CDs erstreckende Science-Fiction-Werk „Otherland“ beispielsweise, an dem mehr als 250 Sprecher mitwirkten, soll eine runde Million Euro verschlungen haben.

Doch auch solch große Investitionen scheinen sich zu lohnen. „Die Grenzen des Marktes sind noch nicht erreicht“, sagt Claudia Gehre, Geschäftsführerin des Audio-Verlags in Berlin, der rund 500 Titel im Programm hat. Mehr als die Hälfte davon sind Produktionen von RBB, WDR und SWR, die an dem Verlag beteiligt sind. „Etwa 10 Prozent Marktanteil sind machbar“, schätzt Gehre. Das sei die Größenordnung, die sich in Ländern wie den USA und Großbritannien, in denen „Audiobooks“ schon eine längere Geschichte haben, dauerhaft eingependelt habe. Von Euphorie ist sie jedoch weit entfernt. „Wir Verleger haben immer versucht, den überall postulierten Hörbuch- Boom zu relativieren“, sagt Gehre. „Es gibt zwar ein stetiges Wachstum, doch die tatsächlichen Verkaufszahlen sind moderat.“

Eine Erfahrung, die besonders kleine Verlage immer wieder machen müssen. Eine Startauflage von gerade mal 2000 Stück hat das 2006 gegründete Berliner Label Lauschrausch von seiner ersten Produktion pressen lassen. „Wir sind mit großem Enthusiasmus gestartet, nach einer ersten Besprechung mit unserem Vertriebspartner sind unsere Erwartungen an den Markt allerdings reichlich konservativ“, sagt Geschäftsführer Töni Schifer, von der Plattenfirma Crippled Dick Hot Wax, zu der Lauschrausch gehört.

Der Umsatzboom sei hauptsächlich den großen Produktionen zu verdanken, sagt er und meint Umsetzungen von Bestseller-Autoren wie Dan Brown oder die Lesungen der Harry-Potter-Reihe, die inzwischen eine Gesamtauflage von 2,3 Millionen erreicht haben. Schifer hofft zwar, dass das Hörsegment einmal zum zweiten Standbein wird. Doch alles braucht Zeit. Für 2007 sind nur zwei neue Produktionen geplant. Eine davon ist eine Inszenierung der erotischen Novelle „Venus im Pelz“ von Leopold von Sacher-Masoch. Nichts für Kinder also, für die lange Jahre fast ausschließlich produziert wurde. Doch gerade ihnen verdankt das Medium seinen Erfolg. „Die Hörer von heute sind aufgewachsen mit Benjamin Blümchen und Märchenkassetten“, sagt Verleger Oliver Rohrbeck. Auch Claudia Gehre spricht wegen der groß gewordenen Hörer, die mit dem Medium schon Jahre vertraut sind, von einer „gewachsenen Hörkultur“. Fehlt diese, hätten es Hörbücher schwer. In Spanien, Italien oder Frankreich beispielsweise seien sie kaum verbreitet. Vielleicht ist dort einfach das Fernsehprogramm besser. Den gesteigerten Marktanteil verdankten die Hörbuchverlage hierzulande nämlich nicht nur den großen Kindern, ist sich Gehre sicher, sondern auch noch einem anderen Umstand: einem zunehmend langweiligen Fernsehprogramm und immer flacheren Radioformaten. Die Verlagsleiterin freut sich: „Die treiben uns die Leute doch direkt in die Arme.“

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