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Berlin: Der Pilz von Germania

Mit einem monströsen Betonklotz wollte Hitlers Baumeister Albert Speer die Belastbarkeit des Berliner Bodens testen

François blickte in den bleiernen Himmel. Die Wolken hingen wirklich sehr tief. Würde er die Spitze des Triumphbogens an solch einem Tag überhaupt sehen können? Schon vorhin am Potsdamer Platz der grüne Würfel über dem Debis-Komplex war in grauen Schleiern verschwunden, und der Bogen, der hier an der Schöneberger Kolonnenbrücke entstehen sollte, wäre mit 117 Metern sogar noch rund zehn Meter höher geworden.

Mit der S-Bahn war er bis zur Papestraße gefahren und Richtung Brücke zurückgelaufen. Ein Passant, den er nach „Albert Speers Großbelastungskörper“ gefragt hatte, blickte erst ratlos, wusste aber doch weiter: „Ach, Sie meinen den Bunker.“ Bunker? Nun gut. Er wusste es mittlerweile besser. Vor 60 Jahren freilich hatten auch er und seine Kameraden herumgerätselt, wozu der runde, weitgehend massive Betonzylinder wohl gut sein sollte, den sie, zu einer Baufirma abkommandiert, neben der S-Bahn in die Höhe wachsen ließen. Aber einem französischen Kriegsgefangenen erzählte man ja nichts, und fragen war erst recht nicht ratsam.

Endlich war er angekommen. Ein verwildertes Gelände, das offenbar keiner mehr haben wollte, mittendrin der graubraune Klotz. Genau genommen ein Pilz, über der Erde 12 Meter hoch und 21 Meter im Durchmesser, während der weit schlankere Stiel noch einmal fast 20 Meter ins Erdreich ragt. Alles purer Stahlbeton, von einigen Messkammern und Gängen abgesehen, rund 12 500 Tonnen schwer. Seit ein paar Jahren sogar denkmalgeschützt, wie er gelesen hatte: als Zeugnis für Hitlers und Speers größenwahnsinnigen Pläne von der Reichshauptstadt Germania.

Der Roman „Vaterland“, in dem Richard Harris Berlin nach einem Sieg Hitlers schilderte, hatte ihn auf die Spur gebracht. Ein gigantischer Triumphbogen taucht darin auf, „ein ungeheurer steingerippter Tunnel, länger als ein Fußballfeld, höher als ein fünfzehnstöckiges Gebäude, mit der gewölbten, verschatteten Decke einer Kathedrale“. Sollte es sich um das geheimnisvolle „Bauwerk T“ handeln, das nahe dem Betonpilz entstehen sollte? War dieser vielleicht nur ein Test, um zu prüfen, ob der Boden den Plänen von Germania standhielte? Und ausgerechnet französische Kriegsgefangene hatten ihn gebaut. In gewisser Hinsicht war das logisch: Das Vorbild zu dem Bogen, allerdings nur fünfzig Meter hoch, stand in Paris.

Die Fragen hatten François nicht mehr losgelassen. Er hatte Bibliotheken durchstöbert, mit Archiven korrespondiert, und nun war er extra noch einmal hergereist. Kopfschüttelnd stand er vor dem Zylinder. Von Germania solle der „magische Zauber eines Mekka oder Rom“ ausgehen, war von Hitler gefordert worden, der schon 1925 eine Skizze zu einem Triumphbogen gezeichnet hatte. „Mit dieser Stadt Berlin ist nichts anzufangen. Von jetzt machen Sie den Entwurf“, befahl er Speer Anfang 1936, der sich als designierter „Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Berlin“ alsbald ans Werk machte.

Die geplanten Bauten des Nationalsozialismus hätten der Stadt und ihrer Identität schmerzlichere Zerstörungen zugefügt als der Bombenhagel des Krieges, hatte François in einem alten Ausstellungskatalog gelesen. Das schien ihm kaum übertrieben. Durch eine Ost-West- und eine Nord-Süd-Achse wäre Berlin geradezu gevierteilt worden. Von der 320 Meter hohen Großen Halle, die etwa an der Stelle des heutigen Kanzleramtes geplant war, sollte eine 120 Meter breite Prachtstraße bis zum Triumphbogen führen, ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen. Von 1938 bis 1942 waren schon zahlreiche Wohnbauten abgerissen worden, so im Bereich des Spreebogens und rund um die Matthäuskirche, die nach Spandau verschoben werden sollte. Nach Bombenangriffen hatte Speer in sein Tagebuch notiert, hier werde „wertvolle Vorarbeit für Zwecke der Neugestaltung“ geleistet. Rund 52 000 Wohnungen, 3,63 Prozent des Gesamtbestandes, sollten der Achsenplanung zum Opfer fallen.

Nur wenig war fertig geworden, beispielsweise die Verbreiterung der Straße durch den Tiergarten mit den eigens von Speer entworfenen Lampen. Die Siegessäule war dabei vom Königsplatz zum Großen Stern umgesetzt worden, die Flügel des Charlottenburger Tores hatte man auseinander gerückt. Und in Tempelhof erinnert seither ein hässlicher Betonpilz, der noch bis 1990 für Bodenuntersuchungen genutzt wurde, an den Albtraum von Germania.

François hatte genug und wandte sich zum Gehen. Den Test, an dem er unfreiwillig beteiligt war, hatte der Berliner Mergelboden sogar mit Bravour bestanden. Er gab unter dem Betonmonstrum nicht mal zwanzig Zentimeter nach.

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