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Berlin: Der Schnee von morgen

Die Neuköllnerin Kathrin Passig gewann in Klagenfurt den Bachmann-Preis. Sie glaubt an ihren Bezirk und sieht ihn auf dem aufsteigenden Ast

Mit den Lachern hat sie nicht gerechnet. Mit ihrem Sieg natürlich auch nicht, aber das Gelächter des Publikums ist Kathrin Passig immer noch unverständlich. Schließlich sei ihr Text „Sie befinden sich hier“, im Vergleich zu ihren anderen Werken, weitgehend humorfrei. „Ich wollte einmal im Leben einen ernsthafteren Text schreiben.“ Die Geschichte von der Frau, die sich im Schneegestöber des Riesengebirges verirrt und den Kältetod stirbt – und kurz vorher noch über die Unterschiede zwischen Kaninchen und Schneehasen grübelt – „das ist doch nicht lustig, oder?“ Publikum und Jury sahen es anders: Zu viel Galgenhumor und zu viele makabere Gedankenspiele stecken in den Zeilen.

Egal, gewonnen ist gewonnen. Am Sonntag wurde die Neuköllner Autorin Kathrin Passig mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, einem der wichtigsten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. In einem dreitägigen Lesemarathon hat sie sich im österreichischen Klagenfurt gegen 17 Mitbewerber durchgesetzt – seitdem ist Passig eine gefragte Person. Die vielen Glückwünsche, das Händeschütteln, das nicht still stehende Mobiltelefon. Ihr Berliner Vermieter habe sie noch in Klagenfurt angerufen und gratuliert. Und eine Mietsenkung in Aussicht gestellt. „Mitunter ein bisschen anstrengend“ findet Passig die vielen Interviewanfragen der Presse. Dabei geht der Medienrummel jetzt erst richtig los: Gestern kehrte sie nach Berlin zurück, nach einer Klettertour in den Steierischen Alpen. Dort hatte sie das Handy ausgeschaltet.

Bisher kannte Kathrin Passig Interviews nur aus dem entgegengesetzten Blickwinkel. Die 36-Jährige arbeitet in Berlin nämlich nicht nur als Sachbuchautorin – „Sie befinden sich hier“ ist ihre erste literarische Veröffentlichung –, sondern auch als Schreiberin für verschiedene Zeitungen. Geboren wurde sie im niederbayerischen Deggendorf, zum Germanistikstudium zog sie nach Regensburg. 1991 wechselte Passig dann an die Berliner FU. „Weil ich endlich mal an einer Uni mit dickem Vorlesungsverzeichnis studieren wollte.“ Leider habe sie bald festgestellt, dass Berlin nicht nur über ein breites Hochschul-, sondern auch über ein riesiges Freizeitangebot verfügt. „Es erfordert übermenschliche Disziplin, sich auf das Lernen zu konzentrieren.“ Und Disziplin ist nicht Passigs Stärke, also dauerte es weitere neun Jahre bis zum Studienabschluss.

Dass der Bachmann-Preis ihr nun Türen öffnet, davon geht die Autorin aus. Dass sie deswegen die Bodenhaftung verliert, ist nicht zu befürchten. Die Frau ist bescheiden. So sehr, dass sie für jeden Erfolg die passende Ausrede parat hat: Das fast einstimmige Votum der Klagenfurter Jury sei deshalb zustande gekommen, weil sie der erste Preisrichter bei der Stimmabgabe „geradezu hymnisch“ gelobt und so vielleicht die Übrigen beeinflusst habe. Dass sie zusätzlich die Internetabstimmung und somit den Klagenfurter Publikumspreis gewann, liege wohl daran, dass viele ihrer Freunde regelmäßig im Internet surften. Die beiden Auszeichnungen haben Passig an einem Wochenende um 30 000 Euro Preisgeld reicher gemacht. Eine prima Sache, sagt sie, aber auch Ironie des Schicksals. Denn zu Jahresbeginn unterschrieb Passig beim Rowohlt-Verlag einen gut dotierten Vertrag für ihr nächstes Sachbuch – „zum ersten Mal in meiner Karriere bin ich nicht mehr arm“. Das Buch soll „Lexikon des Unwissens“ heißen und Alltagsphänomene beschreiben, für die es bis heute keine eindeutigen wissenschaftlichen Erklärungen gibt. Zum Beispiel: Wieso klebt ein Klebestreifen? „Wer sich wirklich damit auskennt, muss zugeben, dass wir noch sehr wenig darüber wissen.“

Passig hat auch Ideen für andere Sachbücher. Für einen Roman noch nicht. Aber der wird kommen, „schließlich sind die 30 000 Euro genau dafür gedacht“. Es sei nicht richtig, das Geld für ein weiteres Sachbuch „zweckzuentfremden“. Aus Neukölln will Passig auch nicht wegziehen. Und zwar aus drei Gründen: „Sehr billig, zentral gelegen, und an jeder Ecke gibt es einen Supermarkt.“ Übrigens stammten drei der sechs Berliner Kandidaten für den diesjährigen Bachmann-Preis aus Neukölln. Und alle lebten in der Umgebung der Weserstraße, in der Passig wohnt. „Die Straße könnte das nächste große Kultur-Ding werden“, grinst sie. Überhaupt sieht sie den Bezirk – trotz der Diskussionen um die Rütli-Schule und Detlev Bucks Gewaltfilm „Knallhart“ – auf dem aufsteigenden Ast. Das könne man auch an der Vielzahl der „vernünftigen Kneipen“ ablesen, die dort in den vergangenen Monaten eröffnet hätten. In einer davon stand ein kleiner weißer Hase zur Dekoration. Ein Schneehase, wie der in ihrem Text. Sie durfte ihn mit nach Hause nehmen. „Seit 15 Jahren geht jetzt das Gerücht um, dass alle Kreativen nach Neukölln strömen“, sagt Passig. „Bisher ist nie etwas passiert – aber diesmal glaube ich fest dran.“

Der Siegertext im Internet:

http://bachmannpreis.orf.at

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