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FÜNF  MINUTEN  STADT: Der Spucker

Auf den Straßen der Stadt schauen die einen hin, die anderen weg. Einige spucken auch hin.

Auf den Straßen der Stadt schauen die einen hin, die anderen weg. Einige spucken auch hin. Neulich zum Beispiel mir direkt vor die Füße. Rrrrrrrrtsch-flatsch. Da liegt es, das ausgekeuchte Schleimding. Auf dem Gehweg der Ohlauer Straße in Kreuzberg. Der Spucker ist jungmännlich, trägt eine blaue Baumwollstrickjacke, eine schlecht geschnittene Jeans, am Kinn Bartstoppeln. Ich bleibe stehen. „Hast du sie noch alle?“, frage ich ihn. „Man spuckt doch nicht einfach Leuten vor die Füße!“ „Doch“, entgegnet der Spucker mir lässig, „ich darf das.“ Ich schaue entgeistert. „Du darfst das auch“, sagt er. „Los, mach schon, ich schlag dich nicht.“ Ich schüttele den Kopf. „Ich spucke niemandem vor die Füße.“ „Los, mach schon, jeder darf das.“ „Nein“, sage ich und will weitergehen, als er anfängt zu schimpfen: „Nee, klar, du machst das nicht“, seine Stimme wird immer lauter, „denn du bist modern, MODERN, MODERN. SIE IST MODERN.“ So. Jetzt wissen es alle in der Ohlauer. Der Hipster, der die Szene im Vorbeigehen beobachtet hat, wendet sich ab und entfernt sich in die andere Richtung. Und der Spucker und ich, die wir wohl den gleichen Weg haben, gehen ebenfalls weiter, bestimmt dreißig Meter nebeneinander. Bis der Spucker stehen bleibt, eine kleine Verbeugung macht und mir den Vortritt lässt. Er ist wirklich nicht modern. Aber was ist er? Unmodern? Oder vormodern? Und wenn ich gespuckt hätte, wäre ich dann postmodern?Nikola Richter

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