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Berlin: Die Bürger Berlins – ein enormes Potenzial DER AUTOR: ROLF KREIBICH, WISSENSCHAFTLER BERLIN, DIE GEDULDETE HAUPTSTADT?

Auf Industrie kann die Hauptstadt nicht bauen. Sie muss Kultur, Wissenschaft und die Jugend fördern/ Von Rolf Kreibich

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderaler Staat und sollte es auch bleiben. Die zahlreichen gewichtigen lebendigen Zentren von Hamburg bis München und Dresden bis Düsseldorf sind Edelsteine in einem flächenmäßig zwar relativ kleinen Land, aber mit 80 Millionen Menschen. Die föderale Struktur schafft Farbigkeit, Wettbewerb und Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten wirtschaftlich, sozial, geistig und kulturell.

Vor diesem Hintergrund ist die Hauptstadt Berlin zunächst einmal „nur“ dadurch herausgehoben, dass hier das politische Entscheidungszentrum mit Bundesparlament, Regierung und Bundesrat liegt. Dazu kommen Botschaften, Ständige Vertretungen der Länder, zahlreiche internationale und nationale Verbände, Organisationen, Medien und zivilgesellschaftliche Gruppen und Netzwerke. Sie nehmen hier vor allem Kontakte zu den politischen Entscheidungszentralen und ihren Eliten wahr. Bereits in der kurzen Zeit seit der Entscheidung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz im Jahr 1991 haben sich die Stadt, das Stadtleben und ihre Ausstrahlung nach außen so stark verändert, dass eine Sonderstellung Berlins im föderalen System unstrittig ist.

Gleichwohl, das kann und sollte nicht alles sein, was die Hauptstadt eines wichtigen europäischen Landes mit der zentralen historischen Rolle und ihrer zukünftigen Funktion im neuen Europa der 25 ausmacht. Die Hauptstadt braucht eine zweite Säule, die eher auf den inneren Stärken als äußeren Begünstigungen aufbaut.

Die große Schwachstelle Berlins – der Niedergang zahlreicher industrieller Branchen – kann und muss heute durch eine moderne Dienstleistungs- und Wissensstruktur überwunden werden. Angesichts der Tatsache, dass die modernsten Volkswirtschaften das überwiegende Beschäftigungspotenzial im Bereich der Dienstleistungen haben (USA 76 Prozent, Schweden Prozent, Deutschland 66 Prozent) und davon schon etwa zwei Drittel Informations-, Kommunikations- und Wissensarbeiter sind, gibt es für Berlin nur eine Konsequenz: Die zweite Säule muss auf Wissen, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Qualifikation, Kultur, Information und Kommunikation aufbauen. Das korrespondiert glücklicherweise mit verschiedenen Stärken der Stadt: Da ist das große und leistungsfähige Potenzial an Forschungsinstitutionen, Universitäten und Fachhochschulen, Weiterbildungs- und Fortbildungseinrichtungen, beruflichen Ausbildungsstätten, Bibliotheken, Archiven und Museen. Da gibt es eine breite Palette von kleinen und mittleren kreativen und innovativen Unternehmen in den Bereichen Hightech und Lowtech, Beratung und Kommunikation, Medien und Design, Kultur und Veranstaltungsmanagement. Diese Bereiche gehören heute zusammen und sie sind tendenziell höchst wertschöpfend.

Berlin als „Hauptstadt des Wissens und der Kultur“ ist somit keine Fiktion. Sie muss allerdings weiter erarbeitet werden und mindestens zwei Bedingungen erfüllen: Wissenschaft, Bildung, berufliche Qualifikation und Kultur – auch und gerade Ereignis- und Subkultur – müssen höchsten Qualitätskriterien entsprechen und innovativ sein. Und genau so wichtig: Die Politik und die etablierten Wirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsverbände der Stadt müssen das vielfältige kreative Potenzial fördern und helfen, deren Angebote in wertschöpfende und exportfähige Produkte und Dienstleistungen umzusetzen. Internationale Studien belegen, dass nur dort, wo dieser Kooperations- und Umsetzungsprozess gelingt, eine neue stabile wissensbasierte Arbeitsstruktur entsteht.

Ergänzend zu dieser Schlüsselfunktion für die Hauptstadt Berlin sollten noch drei Stärken weiter ausgebaut werden:

Erstens sollte das enorme zivilgesellschaftliche Potenzial der vielen engagierten Bürgerinnen und Bürger in Verbänden, Organisationen, Gruppen, Netzwerken, Stiftungen und Vereinen sowie die Vielfalt der Qualifikationen der ausländischen Mitbürger und Migranten genutzt werden. Allein am Prozess der Lokalen Agenda 21 für Berlin haben sich tausende von Bürgerinnen und Bürger in den Berliner Bezirken und auf Landesebene mit zukunftsträchtigen Projekten und Veranstaltungen beteiligt. Auch dieses Potenzial muss durch die Politik und die Wirtschaft der Stadt gefördert werden, um aus den vielen innovativen Konzepten und Projekten zu einer Stärkung des privaten und intermediären Sektors und einer Reduktion staatlicher Funktionen auf unabdingbare Kernaufgaben zu kommen.

Auch wenn das bürgerschaftliche Engagement in Berlin groß ist, ist es noch lange nicht groß genug. Während sich in Berlin 24 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich betätigen, sind es im Durchschnitt in der Bundesrepublik 34 Prozent, in Baden-Württemberg und in Bayern über 40 Prozent. Außerdem würde der Hauptstadt mehr Freundlichkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger und vor allem ihrer Bürokratie gegenüber Fremden, Gästen und Neubürgern gut anstehen.

Zweitens sollte sich die Hauptstadt besonders um die Jugend bemühen. Hier wirkt die Attraktivität der Stadt als Bildungs- und Zukunftswerkstatt wie ein Magnet auf experimentierfreudige und gut ausgebildete junge Menschen. Angesichts der rapiden demographischen Altersverschiebung wird es eine dringende Zukunftsaufgabe sein, fachliche und soziale Kompetenzen und Erfahrungen und Innovationskräfte der Älteren aktiv für die Jüngeren zu nutzen, anstatt sie in ein unproduktives Rentnerdasein abzuschieben.

Drittens geht es um die Wahrnehmung einer aktiven Kommunikations- und Gestaltungsfunktion im neuen Europa der 25 Staaten. Berlin vereint wie keine andere Stadt historisch die beiden Erfahrungen der Welt des Ostens und des Westens in sich. Damit rückt durch die Integration der osteuropäischen Länder die Hauptstadt in die Mitte eines vereinten Europas. Berlin liegt direkt auf der Achse Paris-Moskau und hat die Chance, einen breiten „Innovationsgürtel“ mit Hamburg, dem Ruhrgebiet und den Räumen um Hannover und Magdeburg im Westen sowie Cottbus, Dresden, Breslau, Warschau, Prag und den Balkan im Osten und Südosten mitzugestalten. Um die Chancen besonders in Richtung Osten und Südosten für Wissenschaft, Wirtschaft, Handel, Kultur und Tourismus zu nutzen, müssen sich die Bürgerinnen und Bürger und die Institutionen der Stadt allerdings mehr als bisher für die eigene Geschichte und die Geschichte, Sprache, Kultur und Gesellschaft dieser Länder öffnen.

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