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Foto: Thilo Rückeis

© Thilo Rückeis

Berliner Behörden-Chaos 2015: Die ehrenamtlichen Helfer vom Lageso

Als die Behörden 2015 versagten, begannen viele Berliner, sich spontan um geflüchtete Menschen zu kümmern. Vier Helfer erzählen, wie es ihnen seither ergangen ist.

Sie waren da, als es vor einem Jahr am Lageso unerträglich wurde. Das Wasser wurde zeitweise knapp, bei mehr als 30 Grad lagerten tausende Geflüchtete vor dem Amt. Spontan karrten Berliner Getränke, Obst und Decken zum Lageso, gründeten Willkommenskreise, spendeten und sortierten Kleidung, organisierten Deutschkurse und Kinderbetreuung. Denn diese Menschen dachten nicht nur an momentane Hilfe, sondern viel weiter. Sie wollten die Flüchtlinge in Berlin willkommen heißen, ihnen helfen, sich hier zu integrieren. Über sie sagte Bundespräsident Joachim Gauck damals: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindlichen Aktionen gegen Menschen hören.“

Marco Bulla war einer von denen, die vor einem Jahr schnell und unbürokratisch geholfen haben: Er fuhr mit dem Auto in den Supermarkt, kaufte Obst, Eiscreme für die Kinder und Wasser, und verteilte die Lebensmittel am Lageso. Ein Foto davon postete er auf Facebook – und ihm schlug eine Welle der Hilfsbereitschaft und Sympathie entgegen. Heute, fast ein Jahr später, hat er mit einem Team aus Helfern für insgesamt 35.200 Euro für Flüchtlinge eingekauft. Das Geld sammelte er über Facebook.

154.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit für Geflüchtete

Genaue Zahlen dazu, wie viele Berliner sich ehrenamtlich für Geflüchtete engagieren, wurden statistisch noch nicht erhoben. „Man kann allgemein sagen, dass die Bereitschaft seit dem Sommer 2015 zurückgegangen ist“, sagt eine Mitarbeiterin der Stiftung „Gute Tat Berlin“. Dies habe sich auch vergangene Woche bei einem Treffen verschiedener Berliner Hilfsorganisationen bestätigt. „Es ist aber nicht so, dass sich die Menschen nicht mehr ehrenamtlich engagieren. Viele sind nur wieder in andere Bereiche zurückgegangen, in denen sie vorher aktiv waren“, sagt die Mitarbeiterin weiter. Im vergangenen Sommer habe es einen großen Hype um das Engagement für Flüchtlinge gegeben. Mittlerweile sei man wieder zur Normalität zurückgelangt. Auf der Internetplattform „Volonteer Planner“ (www.volonteer-planner.org) lässt sich einsehen, dass die Berliner seit dem vergangenen Sommer insgesamt mehr als 154.000 Stunden ehrenamtlich für Geflüchtete gearbeitet haben. Und es sollten noch viel mehr sein, denn dazu kommen die vielen Stunden, die nirgends gezählt werden, wie auch die, die Sophie Anscheit in die Flüchtlingsarbeit investiert hat.

Die 21-Jährige hat vergangenen Sommer ein Praktikum im Tiergartener Jugendkulturzentrum „Pumpe“ gemacht und dort mit geflüchteten Jugendlichen zusammengearbeitet. Vor dem Praktikum war sie noch unsicher, ob Flüchtlingsarbeit etwas für sie sei, erzählt sie. Im Sommer dann merkte sie: „Das ist voll mein Ding.“ In der Ferienschule spielte sie mit Jugendlichen Theater und verständigte sich dabei mit Händen und Füßen. Sophie Anscheit blieb mit Leidenschaft dabei.

Auch Ingrid und Birger Marquardt arbeiten mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, in der Flüchtlingsunterkunft in Lichtenrade. Im Sommer 2015 bekam ihre Arbeit plötzlich eine ganz neue Brisanz, sie wurden von Bekannten und Freunden durchweg positiv auf ihr Engagement angesprochen. Bis heute verbringen die beiden etwa je drei bis vier Stunden pro Woche mit den Kindern, die in der Flüchtlingsunterkunft in Lichtenrade wohnen. Birger Marquardt treibt Sport mit ihnen, begleitet sie bei Ausflügen, ins Schwimmbad oder in den Britzer Garten. Seine Frau Ingrid hilft bei den Hausaufgaben, macht mit den Kindern Sprachübungen, hilft bei Mathe-Übungen.

Über den Sommer hinweg lief das sehr gut. Dann wurde es schwieriger. Im Winter kam sogar mal der „ganz große Frust“, erzählt das Ehepaar. „Da haben wir kurz ans Aufgeben gedacht. Die Kommunikation zwischen den Haupt- und Ehrenamtlichen verlief für uns ziemlich unbefriedigend.“ So seien zum Beispiel Termine nicht richtig weitergegeben worden. „Ein anderes Mal wurden die Angebote der Hauptamtlichen als Konkurrenz zum Angebot der Ehrenamtlichen empfunden“, erzählt Birger Marquardt. Das habe sich aber nach Gesprächen wieder eingerenkt.

„Es hat super Spaß gemacht“

Bei Sophie Anscheit lief es auch im Herbst noch gut weiter: Nach dem Praktikum hatte sie gemerkt, dass sie sich unbedingt weiter engagieren möchte. „Während der vier Projektwochen habe ich gemerkt, dass Flüchtlingsarbeit total mein Ding ist und wie viel Energie ich dafür aufwenden kann. Die fröhlichen Gesichter der Jugendlichen zu sehen, reicht schon als Entschädigung“, sagt die blonde junge Frau. Also organisierte sie alle zwei Wochen eine Aktion mit gemeinsamem Mittagessen und einer Unternehmung für die Jugendlichen, die sie in ihrem Praktikum kennengelernt hatte. Finanziert wurden die Unternehmungen vom Jugendkulturzentrum. Es funktionierte: Anscheit war mit einer Mitstreiterin und einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Tempelhofer Feld, beim Kickboxen, in einer Fotoausstellung. Sie verteilte Einwegkameras und gab ihnen Fotoideen, „ich wollte sie nicht nur begleiten, sondern auch fordern“, sagt sie. Ihre Motivation sei nur dann gesunken, wenn viele der Jugendlichen abgesagt hätten oder einfach nicht erschienen seien. „Nach den Aktionen aber war ich jedes Mal wieder voller Energie“, sagt sie. „Es hat super Spaß gemacht.“

Doch die Euphorie des Sommers hielt nicht bei allen ewig an. Marco Bulla ging am 22. März 2016 ein letztes Mal für die Geflüchteten einkaufen. Mit der Zeit sei die Spendenbereitschaft der Menschen gesunken. „Am Ende hatte ich auch nicht mehr so viel Kraft, das Ganze hat mich ausgelaugt“, sagt Bulla. Beim letzten Einkauf gab Bulla die verbliebenen 400 Euro aus. „Vor allem Hygieneartikel haben wir besorgt“, erinnert er sich. „Dazu kamen Babymilch und Babybrei, Rasierer, Babywindeln, Zahnpasta.“ Er wolle sich weiter engagieren, eine so große Aktion wolle er aber nicht mehr starten. „Ich glaube, da ist die Luft auch raus.“ Wenn er sich an den vergangenen Sommer erinnert, kommen bei ihm Gefühle hoch: „Das war für mich eine sehr emotionale Zeit. Es war wichtig für mich, so nah an den Menschen dran zu sein.“ Dass so viele Leute auf seine Idee aufgesprungen sind, begeistert ihn heute noch.

Im Frühjahr 2016 liefen auch Sophie Anscheits Projekte erst einmal aus, der letzte gemeinsame Ausflug fand Ende April statt. „Beim letzten Mal kam leider nur noch ein Teilnehmer“, sagt sie mit Bedauern. „Da mussten wir aufhören.“ Auch die junge Frau plant bereits, sich weiter zu engagieren. Denn trotz aller Hindernisse: Weitermachen wollen alle vier Ehrenamtlichen. „Ich glaube, wenn man Kindern freundlich begegnet, dann haben sie später auch einen anderen Blick auf Europa“, sagt Ingrid Marquardt. Und wenn Birger Marquardt von den Kindern spricht, den „Zwergen“, die am liebsten auch schon Badminton spielen wollen, liegt ein leises Lächeln auf seinen Lippen. Und auch, wenn es nicht immer leicht ist, wollen sie alle weiter arbeiten für ein helles Deutschland, in dem sich Geflüchtete willkommen fühlen.

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