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Die Geschichte des Boxers Adil Ciftci: Vom besonderen Schlag

Er hatte diesen Traum: Einmal Champion sein. Doch Adil Ciftci brachte das Boxen kein Glück. Nicht als Sportler, nicht als Manager. Aber er kann es nicht lassen. Er ist wieder da, zurück im Wedding. Veranstaltet Kampfabende. Kleines Comeback, sagt er.

Die Haltung, sagt Adil Ciftci, die ist das Wichtigste. Aber er meint damit nicht die Boxstellung, linker Fuß vor, rechte Hand ans Kinn. Er meint: „Die Bereitschaft, durchs Feuer gehen zu wollen.“ Der Körper ist ja leicht zu formen, bisschen härteres Training, bisschen Gewicht machen. „Aber die Seele“, sagt er, „die muss was einstecken können.“

Joe Louis ging barfuß zur Schule. Sonny Listons Vater schlug seine Kinder mit der Peitsche. Mike Tyson trug mit zehn Jahren schon eine Magnum mit sich herum. Sie, die großen Boxweltmeister, kamen von ganz unten, nutzten etwas, das sich in ihnen aufgestaut hatte – und wurden Champions.

Das große Ziel aller Boxer. Champion! Das Wort bedeutet: Über jeden Zweifel erhaben. Ein Attribut, das keine Zeit kennt: Champ bist du immer.

Auch Adil Ciftci, Einwandererkind aus Berlin, hatte diesen Traum. „Die Unterprivilegierten kämpfen sich aus dem Ghetto nach oben. Damit konnte ich mich hochgradig identifizieren“, sagt Ciftci im Café des alten Stadtbad Wedding. Der Mann mit dem kahlrasierten Schädel ist 40, den Halbschwergewichtler sieht man ihm immer noch an. 1,88 Meter ist er groß, das Kreuz spannt sich breit unter der dünnen Wildlederjacke.

Adil Ciftci aber hat das Boxen kein Glück gebracht.

Noch immer will er wissen, ob es nicht doch die richtige Haltung ist, die ihn antreibt, die ihn auszeichnet. Kampfabende veranstaltet er, diesmal. Dritte Runde.

Der Aufstieg des Chancenlosen, das ist gar nicht seine Geschichte, damit geht es schon mal los. Sein Abitur macht Ciftci mit Notendurchschnitt 2,8. Dann studiert er an der Hochschule der Künste und wird Diplom-Kommunikationswirt. Das Ghetto, das sind die anderen.

Adil Ciftci wächst im Wedding auf, Gerichtstraße, seine Mutter wohnt heute noch in dem grauen Altbau. In den 80er Jahren war das der letzte Winkel West-Berlins, die Hochstraße rauf kam bald ja nur noch die DDR.

„Die Schule hat mich gerettet“, sagt Ciftci. Die meisten türkischen Kinder in der Gerichtstraße haben nicht viel mehr zu erwarten als eine Hilfsarbeiterkarriere. Sie landen bei den Turkey Boys oder einer der anderen Gangs der Gegend. Jeder Zehnte schafft es aufs Gymnasium, jeder Zweite landet irgendwann im Knast. Rechnen lernst du schnell im Wedding.

Welch Glück, wenn du einen Vater hast, der weiß, dass es in diesem neuen, kalten Land vor allem auf eines ankommt, Bildung, Abschlüsse, den korrekten Weg. Vater Ciftci zeigt seinen Söhnen am Fenster die Langhaarigen, die in ihren Parkas vorbeischlurfen. Schaut mal, sagt er, die sehen vielleicht nicht aus wie wir, aber eines Tages werdet ihr sein wie die, kluge Leute, Studierte.

Training bei Manne und Bernd

Adil Ciftci will seinen Vater nicht enttäuschen. Er gibt sich Mühe. Heute sagt er: „Bei den Türken war ich der deutsche Türke, weil ich die Sprache so gut konnte. Im Gymnasium war ich wieder der Außenseiter, der Quotentürke. Ich war immer irgendwie dazwischen.“

Aber dreimal die Woche bauen die Boxer von Hertha BSC ihren Ring auf in der Sporthalle des Diesterweg-Gymnasiums in der Böttgerstraße, noch heute tun sie das, montags, mittwochs, freitags, Training von fünf bis acht. Hier, wo die Trainer Manne und Bernd heißen, ihre rauen Kommandos von den holzvertäfelten Wänden widerhallen, zieht es den jungen Adil Ciftci hin. Hier rinnt der Schweiß allen den Nacken herab, egal woher sie kommen, aus der Türkei, dem Wedding oder – wie Manne und Bernd – aus der DDR.

Ciftci lässt sich bald die wichtigen Boxmagazine nach Hause schicken. Und er studiert jeden Kampf, von dem es Aufzeichnungen gibt. Er fängt an, ein bisschen herumzutanzen im Ring, reckt den Hals vor, pendelt die heranfliegenden Fäuste aus, nur mit dem Kopf, komm schon, ein bisschen Show, ein bisschen Caesar’s Palace. Von der Seite brüllen sie rein, lass den Mist, weg von die Seile, denn das ist nicht die Welt von ehrlichen Amateurboxern wie Manne und Bernd.

Aber wer will schon boxen wie Henry Maske? Dessen Kämpfe verachtet Ciftci, immer zurückweichen, bloß nicht getroffen werden, pah, getroffen von wem denn, das ist doch kein Gegner. Nein, nein, los, nach vorne, immer vor! Schlag um Schlag, du oder ich. „Ich habe schnell gemerkt“, sagt Adil Ciftci, „dass ich eher der risikofreudige Typ bin. Vielleicht wäre ich als Profi draufgegangen, aber ich hätte auf jeden Fall gekämpft.“

Ruhig spricht er diesen Satz, seine Stimme ist hell, nie wird er laut, nie unbeherrscht, auch nicht, wenn er über die Brüche in seinem Leben redet. Denn die Karriere des Boxers Adil Ciftci endet, bevor sie richtig losgegangen ist, kurz bevor er Profi werden konnte, erste Gespräche hatte er schon geführt. Sie endet, reine Ironie, mit seinem besten Schlag. Linker Haken. Der war hart. „Wenn ich damit durchkam“, sagt Ciftci, „war der Kampf vorbei.“ Aber dann dieser eine, dieser verfluchte linke Haken, den er nicht im Ring schlägt, sondern in der Wartehalle des Flughafen Schönefeld.

Die Schulter, die sich so seltsam anfühlt

Er hat nie herausgefunden, was damals tatsächlich passiert war. Ob der Vater wirklich vorgedrängelt hatte, ob es die Nervosität war, wie vor jedem Flug. Der Streit war ja schon in vollem Gange, als der Sohn die Halle betrat, den Schlüssel des Familien-Opels noch in der Hand. Er sah gerade noch den Hieb, der seinen Vater traf, einen Mann im Rentenalter. Wie im Ring übernahmen die Instinkte, der linke Haken also, Reflex des Boxers, nur dass diesmal gleich ein paar Gegner an ihm dranhingen, seinen Arm umklammerten, das Ausholen, der Schmerz, die Schulter, die sich plötzlich so seltsam anfühlte. Champion?

Die OP-Narbe auf Ciftcis Schulterblatt ist gewaltig, sie zieht sich von seinem Schlüsselbein in einer leichten Biegung zum Oberarm, vielleicht zwanzig Zentimeter, vielleicht länger. Die Ärzte haben damals ein Stück Knorpel aus dem Beckenkamm genommen und oben wieder eingesetzt.

Weitergekämpft hat er noch, natürlich, ein Jahr, das Ende ist wohl dokumentiert: 14. Juni 1998, der Gegner ein Kai Winter, nüchtern notiert im Startbuch, unten auf Seite 13, die Nummer 1 und das RSC für den Kampfabbruch in der ersten Runde, Referee Stopped Contest, kein Wort von der endgültig abgesplitterten Gelenkpfanne, der OP, dem Gips, der Reha, und dem Arzt, der sagt, endgradige Bewegungen bitte künftig unter allen Umständen vermeiden. Heißt: kein Volleyball, kein Schwimmen, und, bitte, absolut kein Boxen mehr. Sonst geht noch mehr kaputt.

Er will die Spinnweben loswerden, so sagen die Amerikaner, wenn ein Boxer nach dem Knockdown den Kopf schüttelt. Wenn Adil Ciftci über die dunkle Zeit spricht, wirft auch er den Kopf zur Seite, ein kurzes Zucken nur, dann hält er inne. Als würde der Wille über die Erinnerung siegen. Wer weiß, wofür das gut war, sagt er, und es klingt so, wie es gemeint ist: als wüsste er es bis heute nicht.

Er hat es ja versucht, hat in der Werbeagentur seines älteren Bruders gearbeitet, hat nicht geklappt, ist Taxi gefahren, wie schon während des Studiums, Bewerbungen hat er auch ein paar geschrieben, was aber, wenn sich jede Absage anfühlt wie ein Leberhaken von Tyson?

Was also machst du, wenn du Ende 20 bist, ein Diplom in der Tasche, das dir egaler nicht sein könnte, und wenn du merkst, dass der Alkohol nur bis zum nächsten Morgen hilft? Was, wenn du dich morgens immer an den gleichen Traum erinnerst?

Du suchst jemanden, der ihn für dich lebt.

Wie Adil Ciftci einmal Weltmeister wurde

Die junge Boxerin, die da Anfang 2006 vor ihm steht, hat sie, die richtige Haltung. Sie ist die, mit der sein Traum von einem Titel greifbar wird. Ciftci setzt sich mit ihr und ihrem Trainer zusammen, sie machen einen Plan, es ist ein Masterplan: In anderthalb Jahren soll Ramona Kühne um die Weltmeisterschaft boxen. Ciftci ist ihr Manager.

Kühne sieht gut aus, was immer wichtig ist im Boxring, auch für männliche Kämpfer, sie hat blonde Haare, sie kommt aus dem Berliner Umland. Für so jemanden zahlen die Leute. Ein Glücksfall für einen Promoter.

Ein solcher ist Ciftci, der am Anfang die Kosten trägt, mühsam Gegner organisiert, nicht zu schwach, nicht zu stark, im Hinterkopf die Hoffnung, irgendwann in den großen Arenen aufzutreten, die Sternchen sitzen in den ersten Reihen, RTL überträgt live, und er, Ciftci, würde an allen Einnahmen beteiligt.

Die Hermann-Gieseler-Halle in Magdeburg ist von außen eine weiß getünchte Scheune, von innen eine riesige Flugzeugturbine. Unter den gewölbten Stahlstreben wird Ramona Kühne am 13. Oktober 2007 Boxweltmeisterin im Junior-Weltergewicht, fast auf den Tag anderthalb Jahre nach ihrem ersten Kampf. Einstimmiger Punktsieg. Champion!

„Wir haben das so gut durchgezogen“, sagt Adil Ciftci, „haben jeden Tag dran gearbeitet, mit so viel Liebe, Commitment. Wir sind nach Plan Weltmeister geworden!“ Zum ersten Mal klingt seine Stimme da eine Spur verbittert. Den Titel in der Tasche hätten sie und er, ihr Manager, mit den großen Boxställen verhandeln können, aus der starken Position heraus. „Aber dann“, sagt er, „sind die wahrscheinlich vorher zusammengerückt.“

Wie muss das sein, wenn du ganz oben bist, am Ziel, endlich, und dann bist du plötzlich gar nichts wert? Man spricht nicht mehr mit dir, irgendwann liegt das Schriftstück vor dir, das sagt: Der Vertrag ist aufgelöst. Pläne ändern sich.

Unerheblich, wie genau die Trennung abgelaufen ist. Es geht jedenfalls vor Gericht, Ciftci beruft sich auf seinen Vertrag, eine Standardausfertigung. Aber er verliert, in erster, in zweiter Instanz. „Ich hätte noch weitergemacht, bis zum BGH“, sagt er, „es ging ja um meinen Namen.“ Adil, das heißt wörtlich: der Gerechte.

Kunst und Kampf im Wedding

Adil Ciftci ist erledigt. Verbittert zieht er sich zurück, gibt seinen letzten Hoffnungsträger an ein anderes Management ab. Ohne Ablöse. Nur raus, nur weg.

Niederlagen sind wichtig, sagt Werner Kastor, man lernt durch sie, wieder aufzustehen. „Aber dafür brauche ich nicht zu boxen. Das lerne ich überall.“

Werner, hat Ciftci über seinen Freund und Geschäftspartner gesagt, der ist genau wie ich. Was heißen soll, dass auch Kastor nicht vom Boxen loskommt. Aber der, seit 20 Jahren kommentiert er für den Sender Eurosport Boxkämpfe, sitzt beim Tee in einem Feinkostladen in Weißensee und wehrt ab. „Ich habe jahrzehntelang ohne das Boxen gelebt, kein Problem.“

Heute am Ring nennt Kastor die Dinge beim Namen, dafür schätzen ihn die Zuschauer. Wenn einer auf die Fresse kriegt, sagt er das auch so. Kastor ist Ciftcis Vertrauter, gemeinsam veranstalten sie nun die Kampfabende im Wedding: „Kunst und Kampf“, der nächste findet drei Tage vor Weihnachten statt, in den Uferstudios an der Panke.

Auch Kastor hat es früher mal versucht im Profigeschäft, als Mittelgewichtler, Anfang der 60er. Den Kampfrekord rattert er noch heute herunter, Vier-Drei-Eins, heißt: vier Siege, drei Niederlagen, ein Unentschieden. Er hat erlebt, wie hart die Faust eines Profis ist, wie sie einem im Ring das Selbstbewusstsein zertrümmert. Wie das ist, da unten zu liegen, all die Scheinwerfer so endlos weit weg und verschwommen. Wie sie einen blenden.

Seinen Traum handelt er ab wie die Werbepause zwischen den Runden. Ist halt so, kann man nicht ändern. Zu wenig Talent, von den falschen Leuten betreut. Da fiel die Entscheidung leicht zwischen Boxen und Studieren. Kastor geht nach England, wird Journalist, arbeitet für die BBC, und kehrt erst Ende der 80er wieder zur Leidenschaft seiner jungen Jahre zurück.

They never come back, heißt das alte Boxergesetz, aber das ist Blödsinn. Sie kommen alle wieder. Adil Ciftci hat vor Kurzem seinen Job als Arbeitsvermittler in Hamburg gekündigt, wohin er vor zwei Jahren gezogen war. Frau und Kind sind dort geblieben. Er aber ist wieder da, im Wedding, da, wo alles angefangen hat.

Ein paar Boxkämpfe soll es bei „Kunst und Kampf“ geben, ein bisschen Theater, und eine Band spielt auch. Die Boxer sind jung und aus dem Wedding. Ein Erfolg ist es dann, sagt Werner Kastor, wenn wir keine Miese machen.

Eine Supersache ist das, sagt Adil Ciftci, und zum ersten Mal wird seine Stimme etwas lauter. Kampf! Sagt er. Wedding! Kleines Comeback, sagt er auch. „Wir können es nicht lassen.“

Dem Autor Johannes Ehrmann auf Twitter folgen: @johehr

Dieser Artikel erscheint im Wedding-Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.

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