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Berlin: Die Hauptstadt der Barbaren

Wie verschreckte Intellektuelle aus München, Dresden und Saarbrücken das Meckern lernten und endlich zu echten Berlinern wurden

Manchmal möchte der Berliner, so grobschlächtig und unsensibel er auch ist, ein klein wenig weinen über die Ungerechtigkeit der Welt. Da geben sie droben im Hamburger Senat einen Koalitionsstadl, dass das Rathaus wackelt – aber mäkelt deshalb jemand über Hamburg? Die gleiche Schau in Berlin, und die Stadt würde sofort von der Bundeswehr besetzt. Unheilbar provinziell! Manchmal glauben wir selbst an dieses Urteil und holen Verstärkung von draußen, aus den echten Metropolen. Hilft auch nicht. Denn dann heißt es, damit habe Berlin wieder einmal bewiesen, wie provinziell es wirklich sei. Ein Spiel mit Tradition: Germanisten fragen sich schon ewig, was Goethe eigentlich hatte gegen den „verwegenen Menschenschlag“, den er in den Berlinern sah; Heinrich Heine wandelte hier durch ein „großes Jammertal“ mit „lauter Angst und Qual“, freilich verständlich aus soldatischer Perspektive.

Berlin wird von draußen wahrgenommen wie durch einen Vexierspiegel: Es grinst heutzutage immer nur der ewige Taxifahrer draus hervor, in der einen Hand die schlaffe Currypappe, in der anderen den zerfledderten Stadtplan. Teuflisch denkt er sich Gemeinheiten aus, beispielsweise jene, den Lieblingswein des zugereisten Münchener Kulturmenschen Montepulzjano auszusprechen, mit schön eckigem Z wie Zutschini. Huh, sagt der Kulturmensch, hier ist menschliches Leben nicht möglich, verlängert seinen Vertrag um ein Jahr und verfasst gleich ein Buch über die schlimmste Stadt der Welt neben Kabul und, na gut, Pjöngjang.

Ein Buch wie „Hier spricht Berlin“, Untertitel: „Geschichten aus einer barbarischen Stadt“ (Kiepenheuer&Witsch, 8,80 Euro, erscheint im September). Geschrieben haben es Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl und Anne Zielke, allesamt angesiedelt im Umfeld der FAZ und deren Sonntagszeitung – Versprengte und Verschreckte aus München, Saarbrücken, Dresden, die mit masochistischer Inbrunst berichten und in ihren Miniaturen doch jede Antwort auf die Frage schuldig bleiben, weshalb sie sich all das antun. Zum Beispiel, statt im Dienstcabrio in der Tramlinie 50 zu fahren, einer Vorhölle der Langsamkeit, deren Lenker offenbar für jede dahergelaufene Oma bremsen, statt sie umzumangeln, wie es in München Sitte zu sein scheint.

Ein ahnungsloser Krämer, der Bonbel für einen essbaren Käse hält, erregt ihren Zorn, beim Anblick ungeschickter Kaffeezubereitung beginnen sie, von coolen italienischen Baristas zu delirieren; wenn die Fleischverkäuferin „Farmerschinken“ sagt, verstehen sie „Pharmaschinken“ und können sich kaum halten vor Grausen über die Kulturlosigkeit der Stadt, die diesen Hörfehler ja schließlich durch ihr So-Sein überhaupt erst ermöglicht. Und wenn die Nachbarin ohne Vorhang bei offenem Badezimmerfenster duscht, wähnen sie sich sofort im Visier irgendeiner versteckten Kamera – vermutlich jene journalistenspezifische Paranoia, die sich nach dem Besuch von Hunderten von Presseempfängen praktisch von selbst entsteht.

Dennoch ist das Zerrbild, das uns dieses Bändchen vermittelt, alles andere als einheitlich – wegen der unterschiedlichen Herkunft der Autoren. Denn Berlin ist eben auch jener Ort, in dem Sichtweisen und Vorurteile aus östlicher und westlicher Richtung so unversöhnlich zusammenstoßen wie Spreewaldgurken und Olivenöl extra vergine. Und so kommt es, dass die nahe liegende Kritik am Geschnösel der Autoren (West) gleich sehr hübsch selbstironisch aufgefangen wird durch Sottisen der Autoren (Ost), die das Prinzip begriffen haben: „Da hocken sie nun traurig in viel zu großen Altbauwohnungen mit viel zu niedrigen Lebenshaltungskosten“, schreibt Peter Richter über die neuen Kollegen im schnieken Büro in Mitte, „sie wollen Berlin ein bisschen mehr wie München machen, und sie fangen da an, wo es besonders weh tut.“

Mit anderen Worten: Es ist der Grundstein gelegt für eine lange Hauptstadtkarriere, in deren Verlauf der Meckermünchener, wenn der Schmerz erst nachlässt, kaum merklich zum Meckerberliner mutiert und sich dann endlich das Recht erschrieben hat, legitim weiterzumäkeln, eben wie wir Eingeborenen, die im Buch gern gebildet „Autochthone“ geheißen werden.

Klar: Fast alle Fundstücke in diesem Buch hätten so oder ähnlich auch in Stuttgart, Frankfurt oder eben München aufgesammelt werden können. Es tut nur eben niemand. Und das ist, so gesehen, kein schlechtes Zeichen für Berlin.

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