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Tagesspiegel-Kolumnistin Pascale Hugues liest und diskutiert im Tagesspiegel-Salon.

© Thilo Rückeis

Mon BERLIN: Die Krise der Besteckfrage

Es ist mühsam, wenn man sich ständig zwischen zwei Abzweigungen entscheiden muss. Und so können aus Nichtigkeiten blutige Konflikte entstehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Pascale Hugues

Jede Nation hat ihre ganz eigenen Zwistigkeiten, ihre immer gleichen polemischen Streitereien, die regelmäßig wie Geysire aus der glatten Oberfläche des Alltags hervorbrechen. Auch bei den Franzosen kommt es zu klassischen Ausbrüchen, meistens übrigens bei Tisch.

Da ist zum Beispiel das Pro und Contra des Bestecks. Als der Käse aufgetragen werden soll, rufen die Gäste: „Nein, nein, lass nur. Wir behalten unser Besteck!“

„Kommt nicht infrage“, antwortet der Gastgeber laut und energisch. „Ihr wollt den Brie doch nicht etwa mit Messern schneiden, an denen noch die Fleischsauce klebt!“

Und so beginnt ein Wortgefecht, das sich lange Minuten hinziehen kann. Mir klingen noch die indignierten Ausrufe der Gäste in den Ohren, als würde ihr Leben von einem benutzten oder gespülten Messer abhängen, die Argumente der Sophisten, die auf dem Tischtuch aufgereiht werden. Und dann, endlich! das missgestimmte Glucksen der Kapitulation. In einem der beiden Lager wird schließlich die weiße Fahne gehisst: „Na gut, wenn ihr es unbedingt so wollt!“ Im Triumph zieht der Brie ein. Und die Gemüter beruhigen sich.

Seit ich im Ausland lebe, werde ich oft von Heimatgefühl, von einer Welle der Zärtlichkeit davongetragen. Manchmal sage ich mir, dass die Besteckfrage ein Teil der französischen Identität ist. Ob man die Messer wechselt oder nicht, das sollte in das Verzeichnis der Erinnerungsorte aufgenommen werden.

Gerade in der Küche spielt sich diese Art des Hin- und Hergerissenseins besonders klar ab. Als ich vor ein paar Tagen ein Clafoutis zum Nachtisch vorbereitete, fragte ich mich, ob die Kirschen entsteint oder ganz in den Teig aus Eiern, Milch, Zucker und Mehl gleiten sollten. Nach Meinung der Puristen gibt gerade der Kern diesem traditionellen Dessert seinen besonderen Geschmack.

Jeder Kompromiss in dieser Frage ist ein Verrat, ein Affront gegen die französische Küche. Ach, zum Kuckuck! Praktisch eingestellte Leute wie ich entsteinen die Kirschen, damit man in aller Ruhe genießen kann. Wie viel bequemer und eleganter ist es doch, wenn man die Kerne nicht auf den Tellerrand spucken muss!

Man könnte eine endlos lange Liste aufstellen. Ja oder nein: Homo-Ehe, Ohrfeige, Schuluniform, Europäische Union, Kaffee, Zigarette, Antibiotika, Atomenergie, Ämterhäufung, Zeitumstellung, Mindestlohn, Sterbehilfe … man kann sich den Kopf sehr lustvoll zerbrechen.

Man könnte Gesetze erlassen. Hunderte von dicken Bänden könnten über die fundamentalsten wie über die banalsten Entscheidungen veröffentlicht werden: für oder gegen Joghurt in der Salatsauce (ein Klassiker, der schon so manches deutsch-französische Ehepaar in die Scheidung getrieben hat). „Für oder gegen den Tod!“ ließ mich erstarren, als ich durch das Internet surfte. Und angesichts meines plötzlichen Allmachtsgefühl schrie ich: „Dagegen! Tausend Mal dagegen!“

Aus Nichtigkeiten können blutige Konflikte entstehen. Gulliver traute seinen Ohren nicht, als er die Ursache für den Krieg erfuhr, den die Liliputaner seit 36 Monden gegen das Reich Blefuscu führten. Wie man ein Ei öffnet? Am breiten oder am spitzen Ende? Warum nicht einfach am bequemeren Ende?, fragte schon Jonathan Swift. Aber welches Ende ist bequemer? That is the question.

Eier, Kirschen Besteck, Zigarette, Tod … wie viele Linienschiffe, Matrosen und Soldaten sind ihnen schon zum Opfer gefallen? Beim Versuch, die richtige, die wahre, die einzige Lösung zu finden, könnte man sich damit in den Haaren liegen, bis man kahl ist.

Man könnte sich darin verbeißen. Man könnte seinen Rennwagen in die Mauer der Pseudogewissheiten krachen lassen. Man braucht sich nur einmal die Welt anzusehen, um festzustellen, wohin das führt, leider weit über Küchen und Tische hinaus. Es ist mühsam, wenn man sich ständig zwischen zwei Abzweigungen entscheiden muss. Wie viel leichter haben es die Kinder, denen die Marschroute vorgegeben wird: Hier lang und nirgendwo anders!

Jeder soll nach seiner Façon selig werden, sagte der Alte Fritz. Ins heutige Berlinerisch übersetzt: Is mir doch ejal, schmeckt sowieso gleich.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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