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Berlin: Die tolerante Kolonie

Modedesignerin Pia Punkt über verwunschene Häuser und die geduldete Wildnis in Lichterfelde-West

„Tucholsky hat ein wunderbares Gedicht über ,Das Ideal‘ geschrieben: ,Ja, das möchste: eine Villa im Grünen mit großer Terrasse; vorne die Ostsee, hinten die Friedrichstraße…‘ Na ja, das wird wohl ein Traum bleiben – aber wir sind dem Ideal hier in der Villenkolonie LichterfeldeWest doch ziemlich nahe gekommen. Rundherum gibt es wunderschöne alte Häuser mit großen Gärten; manchmal spazieren wir hier einfach durch die Straßen und entdecken immer wieder etwas Neues – die gründerzeitlichen Verzierungen, blumengeschmückte Loggien, originelle Architektur.

Doch wir haben’s auch ,abends zum Kino nicht weit‘, um nochmal mit Tucholsky zu sprechen. Ruck, zuck – sind wir dank der S-Bahnlinie 1 in der City, schnell auch in Steglitz oder Schöneberg. Und die herrlichen Grunewaldseen liegen vor der Tür.

Mein Mann Joachim Kohl und ich haben beide in den frühen 80er Jahren in Essen Industrie-Design studiert und danach Brillen, Haushaltsgeräte und manches andere entworfen. Ich bin aber auch eine gelernte Schneiderin.

Berlin zog uns dann 1984 magisch an, weil es mit all seinen Verrücktheiten so gar nicht typisch deutsch war. Wir wohnten erst in der Steglitzer Albrechtstraße und hatten dort auch unsere Ateliers als selbstständige Designer – damals noch ohne Kinder. Aber Leben und Arbeiten war an diesem Ort bald nicht mehr vereinbar, wir brauchten mehr Platz und kauften 1988 unsere heutiges Haus am Weddigenweg 57 in Lichterfelde-West. Ein holländischer Architekt hat es 1925 im Stil einer Landvilla gebaut.

Seither haben wir dort auch unsere Ateliers. Ich arbeite als Modedesignerin, meist für Privatkunden, entwerfe und nähe Maßanfertigungen oder Änderungen. Joachim gestaltet weiter Industrieprodukte, er hat zum Beispiel die Ticketautomaten am Potsdamer Platz in Form gebracht oder sich eine ungewöhnliche leuchtende Pinnwand ausgedacht mit Birnchen, gemütlich wie Lichterketten. Diese Leuchten vermarkten wir selbst.

1996 wurde unser Daniel geboren, drei Jahre später kam Mara: Seither sind wir noch ein bisschen mehr in die Villenkolonie verliebt, weil hier inzwischen viele junge Familien wohnen und die Kinder alles um die Ecke gefahrlos erreichen: Kindergarten, Schule, den kleinen Bioladen, Freunde.

Lichterfelde-West hat die Vorteile eines Dorfes, eines Städtchens – und ist dennoch großstädtisch. Hier kennt man sich und kommt im Litehouse-Café am Bahnhof in Stress, wenn vor lauter ,Hallo!‘-Rufen der Kaffee kalt wird. Und hier ist man tolerant. Das zeigt sich schon an den Straßenrändern, wo Goldruten und Wildkräuter wuchern dürfen. Anderswo hätte man diese kleine Wildnis, die so gut zu den verwunschenen Villen passt, weggesenst. Aber bei uns gibt es Gott sei Dank keine Kehrwoche, in unseren Straßen können Sie im Vorbeigehen Blumen pflücken.Aufgezeichnet v. Christoph Stollowsky

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