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Die türkische Community in Berlin: „Es gibt tiefe Verbindungen weit über die Frage hinaus, wer gewählt wird“

In der Türkei läuft die Stichwahl. Der Soziologe Özgur Özvatan über Zusammenhalt innerhalb der türkischen Community – und Berlin als Zufluchtsort für Oppositionelle.

Von Colin Ivory Meyer

Herr Özvatan, in Deutschland konnte Amtsinhaber Erdoğan 65 Prozent der Wähler gewinnen – in Berlin nur eine hauchdünne Mehrheit von 49 Prozent. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären?
Berlin hat in den vergangenen Jahren besondere Migration aus der Türkei erfahren. Es kamen insbesondere jene, die nach den politischen Freiheitseinschränkungen nicht mehr in der Türkei leben wollten. Berlin ist gefragt, weil hier alternative Lebensstile und Vielfalt innerhalb der türkischen Community ihren Platz haben. Außerdem sind die kurdische und alevitische Gemeinde hier auch gut organisiert und tendenziell oppositionell.

Leider wissen wir prinzipiell zu wenig über transnationale Wahlpräferenzen von Berliner:innen, weil keine Daten vorliegen. Dieses Problem gehört behoben, nur: Wer ist bereit, die Forschung dazu zu bezahlen? Eine bloße Betrachtung der Wahlergebnisse liefert nicht das komplette Bild. Sehr wahrscheinlich gibt es unter Oppositionellen eine Verdrossenheit, mit dem türkischen Staat oder dem Konsulat überhaupt zu interagieren. Etwa unter Minderheiten, deren politische Rechte in den vergangenen Jahren eingeschränkt wurden.

Die Spaltung der türkischen Gesellschaft ist auch in Berlin sichtbar. Die Wähler sind geteilter Meinung darüber, wer das Land anführen soll. Durchzieht ein Riss die türkische Community in Berlin?
Das sehe ich nicht unbedingt so. Es gibt tiefe Verbindungen weit über die Frage hinaus, wer gewählt wird. Ein großer gemeinsamer Nenner ist der anti-muslimische Rassismus hierzulande, gegen den oftmals über parteipolitische Grenzen hinaus gemeinsam vorgegangen wird. Es gibt sicherlich Spannungen, aber daran zerbrechen diese Allianzen nicht. Hier wird die Polarisierung größer geredet, als sie eigentlich ist. Das ist insofern gefährlich, als sie sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln kann. Wenn wir stets darüber sprechen, dass wir nicht miteinander sprechen können, dann versuchen wir es auch nicht mehr.

Welche Mechanismen stecken hinter dieser aufgeblasenen Polarisierung? In wessen Interesse liegt das?
Die Polarisierung wird durch Wahlkampf der Parteien forciert. Die Wahlkampfrhetorik ist extrem personen- statt sachbezogen – es geht darum, die Wahrhaftigkeit des politischen Kontrahenten zu hinterfragen. Und die eigene Seite als einzige darzustellen, die für die wahren Interessen des Volkes eintritt.

Dieses polarisierende und Autorität monopolisierende Angebot der Parteieliten wird auch hier konsumiert – aber vieles wird dann interessanterweise doch vor dem Hintergrund des gemeinsamen Lebens in der Berliner Stadtgesellschaft und anderer geteilter Konfliktlinien abgefedert.

Auch die deutsche Öffentlichkeit kommuniziert so, als würde eine eindeutige und erdrückende Mehrheit der deutschtürkischen Community Erdoğan unterstützen, was ein falsches Bild über die Gesamtheit vermittelt. Wir wissen nur, dass zwei Drittel der etwa 730.000 Menschen, die in der ersten Runde hier gewählt haben, Erdoğan ihre Stimme gegeben haben.

Es gibt aber etwa 3,3 Millionen Türkischstämmige in Deutschland. Diese zu ignorieren, erzeugt Frustration und Verdrossenheit. In Berlin haben jeweils etwa 30.000 Menschen am 14. Mai Erdoğan und Kılıçdaroğlu gewählt – aber 120.000 waren wahlberechtigt. Wir sollten diese Zahlen nüchtern betrachten.

Was bedeutet der Ausgang der Präsidentschaftswahl für Berlin?
Wenn Erdoğan gewinnt, könnten noch mehr junge qualifizierte Menschen aus der Türkei auswandern, davon würde auch Berlin profitieren. In Deutschland sind wir aufgrund von Fachkräftemangel und demografischem Wandel abhängig von Zuwanderung, der Türkei hingegen schadet dieser „Brain Drain“. Falls unerwarteterweise Kılıçdaroğlu gewinnt, könnten viele Qualifizierte, die in den letzten zehn Jahren nach Berlin gekommen sind, wieder zurückreisen.

Das wäre eine interessante Entwicklung, vor allem mit Blick auf transnationale progressive Netzwerke, die sich in der vergangenen Dekade in Berlin mit Blick auf den Nahen Osten entwickelt haben. Abgesehen davon sind Oppositionspläne durchgesickert, die Wahlkreise im Ausland etablieren wollen. Wenn das stimmt und die Opposition gewinnen sollte, könnte es Direktmandate aus Berlin ins türkische Parlament geben.

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