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Berlin: Die verruchte Pension

„Cabaret“-Autor Joe Masteroff besuchte die Wohnung, die Schauplatz im Musical ist

Frisch geweißte Wände? Schon was er auf den ersten Blick sieht, passt nicht. Es passt nicht zu dem Bild, das Joe Masteroff seit Jahrzehnten in sich trägt. Eine enge, dunkle Wohnung, mit schweren Vorhängen, die die fiebrigen zwanziger und dreißiger Jahre atmet; vielleicht ist sie immer noch abgewohnt. So sieht diese Wohnung für Joe Masteroff aus. Jene Wohnung in der Nollendorfstraße 17 in Schöneberg, in der neben anderen der englische Schriftsteller Christopher Isherwood von 1929 bis 1933 gelebt hat.

In dieser Wohnung spielen Teile von Isherwoods EpisodenRoman „Leb’ wohl Berlin“, der Joe Masteroff als Vorlage für sein Broadwaymusical „Cabaret“ diente. Jetzt ist Masteroff aus New York gekommen, um die „Cabaret“-Premiere in der Bar jeder Vernunft zu sehen. Und die Wohnung. „Ich wollte die Wurzeln meines Stückes kennen lernen“, sagt er. Thomas Münstermann, der Chef des Friedrichstadtpalastes, hat ihn eingeladen.

Nollendorfstraße 17, zweiter Stock links. Seit gut zwei Monaten wohnt Münstermann mit seiner Familie dort. „Wirklich sehr schön hier“, sagt Masteroff, „aber so war’s damals nicht.“ Weiße Wände, moderne Möbel, viel Platz. Nur ein Holzschild im Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Bibliothek weist darauf hin, dass Isherwood dort gelebt hat, wo Münstermanns Bücherregale stehen. Hier gab Isherwood Englischunterricht, hier übersetzte er. Hier sah er aus dem Fenster und beschrieb Berlin düster, rumorend. Wie er diese Wohnung wahrnahm, liest sich an einer Stelle so: „Der Tempel Berlins, in dem sich alle zum Götzendienst treffen, ist die Pension, und die Priesterin ist die Wirtin, die allen Schmutz von ihren Mietern weiß.“

Der Tempel der sexhungrigen Bohème ist Geschichte. „Das hier könnte eine Wohnung in Skandinavien sein, Schweden vielleicht“, sagt Masteroff. Ein Isherwood-Museum hat er nicht gesehen. Das Liebeszimmer der Nachtclubsängerin Jean Ross ist heute das Kinderzimmer. In jenem Berliner Zimmer, in dem die verruchte Vermieterin „Frau Schröder“ (in Wirklichkeit Meta Thurau) hinter einem Paravent auf einem Sofa schlief, steht der gläserne Esstisch der Münstermanns. Auch der Hängeboden im Bad, auf dem eine Haushaltshilfe schlief, wenn nicht gerade der Hausmeister nach ihr verlangte, ist nur mehr Geschichte.

Masteroff ist bald 85. Er wirkt viel jünger. Aber um sein Bild zu revidieren, sagt er, fühle er sich zu alt. „Ich habe diese Wohnung im Geist zu oft gesehen.“ Er meint: Zu oft, um Isherwoods Geschichten in Verbindung mit einer hellen, freundlichen Bürgerwohnung in Erinnerung zu behalten. mne

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