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Entschleunigtes Berlin: Die Verteidigung der Langsamkeit

Ist Berlin tatsächlich von der Schlafkrankheit befallen? Und was wäre eigentlich so schlimm daran, aus der deutschen Hauptstadt eine öde Fahrradstadt zu machen? Eine Antwort auf Roger Boyes’ Abschieds-Essay "Wie Berlin uns alle betrügt".

„Times“-Korrespondent und Tagesspiegel-Kolumnist Roger Boyes hat mit einem Essay von Berlin Abschied genommen. Unter der Überschrift „Wie Berlin uns alle betrügt“ kritisiert der profilierte britische Journalist und Buchautor Berlin als Stadt, die von der „Schlafkrankheit“ befallen sei und sich wieder stärker öffnen müsse. In loser Reihenfolge schildern nun andere ausländische Korrespondenten ihre Sicht auf die deutsche Hauptstadt. Den Anfang macht Guido Ambrosino von der italienischen Tageszeitung „il manifesto“.

Manche, wie Roger Boyes, der Berliner Korrespondent der „Times“, mögen die Geschwindigkeit und beklagen deren Verlust in der heutigen Stadt. „Es war einmal eine Zeit“, schreibt Boyes, „da war Berlin Avantgarde. Ganz wörtlich war Berlin die Stadt der Beschleunigung. Die Avus, 1921 mit Hilfe privaten Geldes fertiggestellt und weltweit die erste Straße ausschließlich für Autos, war technisch herausragend.“ Tempi passati. Nun diagnostiziert Boyes mit einer Wehmut, die von seiner wunderbaren britischen Ironie nicht kaschiert werden kann, für Berlin „den Rückzug aus den Realitäten des modernen Europa, dieses gewollte Unvermögen, sich der Begleiterscheinungen einer beschleunigenden Welt zu stellen oder mit ihnen gar in Einklang zu kommen.“

Die Diagnose stimmt, aber ich freue mich über diese Entschleunigung, und finde eben diese Langsamkeit schön an Berlin. Wenn die Beschleunigung der neoliberalen Welt die Beseitigung der Mietpreisbindung verlangen würde, um mehr ausländischen Investoren in die Stadt zu locken, dann bitte lieber eine Nummer langsamer. Ich habe bei mir in Kreuzberg schon genug Nachbarn, die sich über steigende Mieten beklagen. Da sollte man eher die Bremse ziehen. Es ist gut, dass man in Berlin noch bezahlbare Wohnungen, Büros und Ateliers findet, mindestens im Vergleich zu vermeintlich dynamischeren anderen europäischen Metropolen.

Der Geschwindigkeitsmythos des frühen 20. Jahrhundert hat uns schnurstracksgerade auch die damals ultramodernen Blitzkriege geschenkt. Überlegen wir lieber einmal mehr, ob Berlin die A100 und andere inzwischen gigantischen Stadtautobahnen braucht.

Die schnellen Privatisierungen der Neunzigerjahre gehörten auch auf den Prüfstand. Musterhaft und ermutigend war das Ergebnis des Referendums über die Privatisierung der Wasserbetriebe. Die Mehrheit der Berliner, brachte dabei zum Ausdruck, dass sie sich Wasser wieder als gemeinschaftliches Gut zurückwünscht, sie wünscht keinen Spielraum für private Gewinnmaximierung. Und obwohl ich gerade der Langsamkeit das Wort geredet habe: Es ist schon ein Skandal, wie der Senat versucht, dieses klare Votum auszusitzen. Dasselbe gilt für das Megaprojekt Mediaspree. Die Bürger des Bezirks haben sich, meiner Meinung nach zu Recht, dagegen ausgesprochen. Der Senat lässt aber, wo er nur kann, munter weiter bauen. Da sitzen wirklich zu viele unverbesserliche „Beschleuniger“ der alten Sorte.

Trotz der Unmenge Baustellen im Zentrum, mein Kiez bleibt mir zum Glück mit seiner liebevollen Langsamkeit erhalten. Wenn die Sonne scheint, die türkische Frauen der Nachbarschaft unbewegt auf ihren Stühlen auf dem Bürgersteig sitzen und plaudern, während die Kinder spielen, dann fühle ich mich wie auf dem Dorf. Der Lebensmittelladen um die Ecke hat in zehn Jahren seine muffige Ausstattung kein bisschen geändert und so findet man leicht, was man braucht, immer an derselben Stelle in den schäbigen Regalen.

Die auffälligste Neuerung ist gar nicht erfreulich: die Flut von Spielkasinos, wo traurige Gestalten ihr weniges Geld an Automaten verschenken. Auch den Trend sollte man schleunigst entschleunigen. Und was die öffentlichen Verkehrsmittel angeht: Trotz S-Bahn-Pannen bleibt Berlin eine superschnelle Stadt. Roms klapprige Busse vermisse ich hier wirklich nicht. Und noch schneller und effektiver kommt man mit dem Fahrrad an, mindestens wenn das Wetter mitspielt. A propos Moderne: Wozu braucht man immer neue schnellere Verkehrsmittel, wo doch das Zweirad längst erfunden worden ist?

Guido Ambrosino

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