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Die Wende wird volljährig: Coole Mischung

Kreativwirtschaft Prenzlauer Berg: Die Macher der Wohnzimmer-Bar halten dem Helmholtzplatz die Treue, das Musiklabel Kitty-Yo arbeitet fern vom Touri-Kiez. Ein Besuch.

Die Serie: "Die Wende wird volljährig"



Früher Arbeiterbezirk und Heimat der Unangepassten, heute Yuppie-Quartier mit Flaniermeilen und Liebling junger Familien. Voll die Szene, Kneipenkiez – und wo bleiben die Alten? Prenzlauer Berg hat sich verändert in 18 Jahren – wie die anderen Ostbezirke Berlins auch. Unsere elfteilige Serie beschreibt den Wandel und lässt Anwohner erzählen – Alteingesessene und neu Zugezogene. Menschen, die etwas bewegen in ihrem Kiez und die ihr Kiez bewegt.



Helmholtzplatz? Nein danke.

In den frühen Neunzigern gehörte der Ort den Drogendealern und Trinkern, da machte Beate Weidler lieber einen Bogen drum, obwohl sie gleich nebenan in der Dunckerstraße wohnte. Die Polizei hatte den Helmholtzplatz, die verwilderte Freifläche, keine zwei Minuten vom U-Bahnhof Eberswalder Straße entfernt, offiziell als „gefährlichen Ort“ eingestuft.

Als Beate Weidler, 39, in Prenzlauer Berg geboren und seit den Achtzigern im Jugendklub Duncker engagiert, dann 1998 mit drei Freunden nach einem geeigneten Ort für ihr Café suchte, hatte sich die Situation auf dem Platz schon etwas gebessert. Das Angebot war zu verlockend: Da stand diese verlassene Eckkneipe. Renovierungsbedürftig, aber mit Potenzial. Ein gemütliches Café sollte es werden, nicht zu schick. Mit alten Polstermöbeln, Retrotapeten und stilvollen roten Lampen. In dem man sich wohlfühlt wie im eigenen Wohnzimmer. So haben sie ihr Lokal dann auch genannt: Wohnzimmer-Bar.

Wie gut diese Idee war, kann man heute an den zahllosen Kneipen in Mitte, Prenzlauer Berg und Kreuzberg sehen, die das Prinzip bis ins Detail kopieren. „Wir sind die Vormacher für die Nachmacher“, sagt Mitbetreiberin Sandra Piller, 31, in Mitte aufgewachsen. Die Möbel haben sie mühsam zusammengesucht: aus dem Theaterfundus, auf dem Trödelmarkt und bei diversen Omas. Auf einem der Sofas soll früher mal Joschka Fischer gesessen haben.

Das Wichtigste aber war der Kaffee. Bis da hin bekam man rund um den Helmholtzplatz nur bitteres Zeug serviert, sagt Beate Weidler. „Wir wollten Kaffee anbieten, bei dem man hinterher nicht unbedingt ein Glas Wasser trinken muss.“ Bei einer Reise nach Florenz wurden sie fündig. Dort sitzt die kleine Rösterei, die das Wohnzimmer seitdem beliefert.

Ihre ersten Gäste konnten mit dem Wohnzimmerprinzip nicht viel anfangen. Die wollten nicht auf Sofas sitzen, die wollten ihre Tresenhocker zurück und Korn bestellen, sagt Beate Weidler. Auch gute Ideen brauchen Zeit. Seit damals hat sich einiges zum Positiven verändert.

Die Dealer vor der Tür sind verschwunden, auch die gebrauchten Spritzen auf den Gehwegen. Das liegt an der Umgestaltung des Platzes. 1998 gab der Senat Geld für eine Liegewiese und neue Spielplätze, ein Toilettenhaus wurde zur Begegnungsstätte umfunktioniert. Und die angrenzenden Häuser wurden saniert. „Das zog viele junge Familien an, das tat der Mischung im Kiez gut“, sagt Sandra Piller. Auch im „Wohnzimmer“ rissen Bauarbeiter Wände raus und zogen Schallschutzdecken ein, während die Frauen weiter ausschenkten. „Wir haben aufgepasst, dass die nur das Nötigste machen“, sagt Sandra Piller. „Dass nicht zu viel von dem Unsanierten verdorben wird.“

Richtig voll wurde es nach der Jahrtausendwende. Mit den ersten Einträgen in Reiseführer kamen die Touristen. Auch in größeren Gruppen, das fanden die Betreiber nicht so gut, weil es ihr Stammpublikum verschreckte. „Inzwischen haben wir eine gute Mischung gefunden“, sagt Piller. Soll heißen: Touristen ja, aber keine singenden Partyhorden. Die feiern heute lieber in der Kastanienallee. Stattdessen kommen viele Studenten, Künstler und Kreative. Und junge Eltern aus der Nachbarschaft, manche mit angeschaltetem Babyfon. Letztens brachte ein Hochzeitspaar direkt nach der Trauung seine Eltern mit, um ihnen zu zeigen, auf welch gemütlichem Sofa es sich kennengelernt hatte.

Wie sich der Helmholtzplatz weiterentwickeln wird? „Da haben wir keine Sorgen“, sagt Sandra Piller. In einen Yuppie-Treffpunkt, wie manche befürchten, werde sich der Platz jedenfalls nicht verwandeln. Und die Wohnzimmer-Bar auch nicht. Vielleicht nehme die Zahl der Autos hier noch zu. In den Neunzigern war es kein Problem, einen Parkplatz zu finden. „Obwohl“, sagt Weidler, „eigentlich hatten wir damals noch gar kein Auto. Da sind wir mit dem Fahrrad gefahren.“ Sebastian Leber


Raik Hoelzels Geschichte klingt wie die vom Hasen und dem Igel. Wann immer Deutschlands Musikmanager in den letzten Jahren einen neuen Trend entdeckten, konnte sich Hoelzel freuen und sagen: „Ich bin schon da.“ Nur, dass der Berliner im Gegensatz zum Igel nicht schummeln muss: Er hat einfach ein gutes Gespür.

Kitty-Yo heißt sein Label, das Büro liegt in der Greifswalder Straße, zweiter Hinterhof, zweiter Stock, einer guten Gegend für kreative Menschen, sagt Hoelzel. In den letzten 13 Jahren hat Kitty-Yo einige große Talente bekannt gemacht: Popsänger Maximilian Hecker, die Exilkanadier Peaches und Gonzales, die Bands Kante und Surrogat. Diese Künstler haben Stile geprägt. Auch bei der Vermarktung war Kitty-Yo oft Vorreiter. Seit Anfang des Jahres konzentriert sich die Firma auf das Download-Geschäft. CD-Pressungen gibt es nur noch zu besonderen Anlässen – ansonsten werden die Songs ausschließlich übers Internet verkauft.

Sein Unternehmen hat Raik Hoelzel 1994 gegründet, zu Hause in seiner Kohleofenwohnung in der Schliemannstraße. Damals besaß er nicht mal einen Computer, „aber immerhin einen Zettelkasten“, sagt er. Heute beschäftigt Hoelzel fünf Mitarbeiter. Als er vor sechs Jahren in das Gebäude in der Greifswalder einzog, gab es unterm Dach schon eine andere Plattenfirma. Inzwischen findet man im Haus auch Filmfirmen und Tonstudios und im Erdgeschoss ein Reisebüro. Das hat sich darauf spezialisiert, Flüge für Menschen aus der Musik- und Medienbranche zu buchen. Ein Haus voller kleiner Firmen, die sich untereinander kennen und zusammen arbeiten. „Independent-Strukturen“, nennt der 42-Jährige das. Wenn etwa ein neuer Song abgemischt werden muss und die Zeit mal wieder drängt, klopft Hoelzel zwei Stockwerke tiefer beim Tonstudio an die Tür und sagt: „Könnt ihr das ganz schnell machen?“ Dann machen die das eben ganz schnell. „So läuft das nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Häusern der Greifswalder und in den Nebenstraßen.“ Das schätzt er an Prenzlauer Berg. Und zum Glück sei die Greifswalder Straße noch nicht so laut und touristisch geprägt wie die Kastanienallee: „Die Dichte an Coffeeshops und Kneipen ist erträglich.“

Aufgewachsen ist er in der thüringischen Provinz, er hat Elektromechanik gelernt. Bei einem Berlin-Aufenthalt war Hoelzel fasziniert von den „komplett anderen, kulturell angehauchten Kreisen“, die er vorfand. Er blieb, nutzte die Freiheiten der Nachwendezeit, um sich auszuprobieren. So half er mit, das besetzte Tacheles in der Oranienburger Straße zum Kulturzentrum auszubauen. Nebenher arbeitete Hoelzel als Altenpfleger, Grafiker, Steuerberater-Gehilfe. Und er betrieb ein Antiquariat. Als er das verkaufte, hatte er 12 000 Mark für seine Plattenfirma. Am Anfang hat Hoelzel viele Fehler gemacht. Zum Beispiel den, mit seinen Künstlern keine Verträge abzuschließen. So fuhr er mit einer Band nach Frankreich, um dort eine Platte aufzunehmen. Und als die fertig war, hat die Band ihre Bänder genommen und bei der Konkurrenz unterschrieben. So was tut weh, aber man lernt daraus, sagt er grinsend.

Neben der Musik versucht sich Hoelzel inzwischen auch in der Modebranche. Seine Frau hat das Label „Bel Alvarado“ gegründet, er unterstützt sie. Mit Kitty-Yo will er noch konsequenter das Internet nutzen. Hoelzel hat festgestellt, dass sich Titel besser verkaufen, wenn er sie vorher kostenlos für jeden zur Verfügung stellt. „Klingt paradox, ist aber so.“

Die allgemeine Krise der Musikindustrie wird Kitty-Yo überstehen. Auch deshalb, weil sein Label auf Qualität setze, sagt Raik Hoelzel. Das ist wie mit dem Prenzlauer Berg. Der habe gegenüber Mitte einen entscheidenden Vorteil: In Prenzlauer Berg hat sich die Kreativwirtschaft ganz allmählich angesiedelt, das war ein langsamer Prozess. Und genau deshalb habe das, was jetzt hier gewachsen sei, Substanz. Sebastian Leber


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