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Berlin: Die Zeit vertieft die Wunden

Georgines Mutter kaufte Geschenke, sie hoffte. Ein Besuch drei Monate nach Verschwinden der Tochter

Auf der Schrankwand im Wohnzimmer stehen die Schokoladenweihnachtsmänner der Größe nach geordnet. Vesna Krüger sitzt auf dem Sofa und senkt den Kopf. „Am liebsten hätte ich das ganze Fest abgeblasen“, sagt die 42-Jährige. „Das war das schlimmste Weihnachten, das ich je erlebt habe.“ Die Familie musste die Feiertage ohne ihre Tochter Georgine verbringen. Die 14-Jährige aus Moabit ist seit 25. September verschwunden. Spurlos.

Seit nunmehr drei Monaten hofft und bangt Vesna Krüger. Sie hofft auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter. Immer noch. Und sie bangt, dass Georgine, die sie liebevoll „Gina“ nennt, etwas Schlimmes passiert sein könnte. Die Mordkommission, die im „Fall Georgine“ ermittelt, geht schon seit längerem davon aus, dass das Mädchen Opfer eines Verbrechens geworden ist.

Vesna Krüger hat dunkle Schatten unter den Augen. Sie betritt Georgines Zimmer. Es sieht genauso aus wie am 25. September, jenem Montag, an dem Georgine verschwand: Das Bett mit der Comicbettwäsche, das Foto von Georgine an der Wand. Auf dem Bild lächelt sie, die dunklen Haare fallen ihr über die Schulter. Nur die Weihnachtsgeschenke, die auf dem kleinen Tisch am Bett stehen, sind hinzugekommen: Ein pinkfarbener Schleier, wie sie die Frauen in den indischen Bollywood-Filmen tragen. Und ein Ensemble von blumigen Kerzen in Zellophanfolie. Die Geschenke sind für Georgine, sagt die Mutter. Georgine liebt Bollywood-Filme. Neben ihrem Bett stapeln sich DVDs, die voll von dem indischen Stoff sind, in dem die Schauspieler schmusen und schmachten und singen und tanzen. Das ist Georgines Welt.

Die Mutter schaut aus dem Fenster auf die Stendaler Straße. Hier, auf dem Weg zur Wohnung, muss Georgine verschwunden sein. Sie war mit dem Bus M27 von der Schule nach Hause gefahren und an der Ecke Perleberger und Stendaler Straße ausgestiegen. Das wollen Zeugen gesehen haben. Nur 200 Meter sind es bis zur Wohnungstür, doch auf diesen wenigen Metern verliert sich die Spur des Mädchens.

Die Polizei suchte mit einem Großaufgebot die Umgebung ab, auch Keller, Brachflächen und die umliegenden Gewässer. Mehr als 100 Hinweise sind bei der Polizei eingegangen, aber keine „heiße Spur“. Die Kripo-Beamten meldeten sich auch jetzt noch, sagt die Mutter, und fragten nach diesem oder jenem Detail, das für die Ermittlungen wichtig sein könnte. „Die suchen weiter.“

Anfangs klammerte Vesna Krüger sich an den Gedanken, dass Georgine möglicherweise nur mit einer ihrer Internet-Bekanntschaften durchgebrannt ist und nach ein paar Tagen wieder auftauchen würde. Erst nach dem Verschwinden ihrer Tochter hatte die Mutter erfahren, dass Georgine sich heimlich mit älteren Jungs traf. „Ich habe zum Fest so sehr auf ein Lebenszeichen gehofft“, sagt sie. Und auch wenn ein Fall wie der des Entführungsopfers Natascha Kampusch aus Österreich „eine absolute Ausnahme ist“, so mache er ihr doch Grund zur Hoffnung. Die heute 18-Jährige Kampusch war acht Jahre lang in der Gewalt eines Entführers, bevor sie sich im August befreien konnte.

Der geschmückte Baum, die eingepackten Geschenke, die Süßigkeiten: Weihnachten habe sie nur wegen Georgines Schwester, der sechsjährigen Michelle, gefeiert. „Die Kleine sollte nicht zu sehr leiden. Für sie machen wir das alles“, sagt Vesna Krüger.

Wir, das sind die Mutter und die Oma. Sie leben zusammen in der kleinen Dreizimmerwohnung. Nur der älteste Sohn Tomislav, 22, wohnt nicht mehr zu Hause. Er hat einen Tag nach Georgines Verschwinden Handzettel mit dem Foto des Mädchens an Bäume und Haustüren im Kiez geklebt. Die Oma sagt, dass sie manchmal nachts auf den Balkon gehe, immer in der Hoffnung, dass Georgine plötzlich um die Ecke gebogen kommt.

Die Zeit heilt alle Wunden – heißt es. Das mag vielleicht für Liebesbeziehungen gelten, die auseinandergebrochen sind. Da lässt der Schmerz irgendwann nach.

Für eine verschwundene Tochter gilt das nicht.

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