zum Hauptinhalt

Berlin: Die Zweifel bleiben

Dem Vater glauben oder der Tochter? Bei Missbrauchsanklagen setzt die Justiz auf Gutachten, denn meist steht Aussage gegen Aussage

Zurück bleibt ein ungutes Gefühl, sagte die Richterin nach dem Freispruch. Ein letzter Zweifel vielleicht, dass Kinderarzt Bernd B. seine Tochter doch sexuell missbraucht haben könnte. Dass sich auch sein heute 31-jähriger Sohn an dem Mädchen verging. „Wie es zu den massiven Vorwürfen kam, wissen wir nicht“, sagte die Richterin.

Sandra B. (Name geändert) war 23, als sie sich entschloss zur Polizei zu gehen, Vater und Bruder des sexuellen Missbrauchs anzuzeigen. Dass sie erst nach vielen Jahren zu sprechen begann, hat bei der Polizei zunächst einmal keinen Argwohn erregt. „Das passiert beim Missbrauch von Schutzbefohlenen relativ häufig“, sagt Oliver Knecht, beim Landeskriminalamt zuständig für die Abteilung Sexualdelikte. Zur Berliner Statistik: 708 Mal wurde im Jahr 2002 Anzeige wegen Vergewaltigung oder schwerer sexueller Nötigung Anzeige erstattet, 316 Mal wegen sexueller Nötigung und 256 Mal wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. „Oft sind die Opfer erst einmal nicht in der Lage, zur Polizei zu gehen“, sagt Knecht. Zuweilen fühlten sich die missbrauchten Mädchen erst nach jahrelanger Traumatherapie in der Lage, sich beispielsweise gegen den eigenen Vater öffentlich zur Wehr zu setzen. „Das Erstatten der Anzeige gehört dann gewissermaßen zum Genesungsprozess.“

Die Polizei führt dann Vernehmungen, sammelt Fakten – und schickt die Akte dann an die Staatsanwaltschaft. Der Ankläger entscheidet, ob es zum Prozess kommt. Prüft Beweise, Spuren, führt eventuell eine eigene Vernehmung. „Auch, um die Glaubwürdigkeit des Opfers zu überprüfen“, sagt Staatsanwalt Michael Stork. Es gibt da so eine Art Fragenkatalog, den die Ankläger abarbeiten: Welche Verletzungen gibt es? Hat sich das Opfer auch anderen offenbart? Sind die Angaben zeitlich schlüssig? Oder war der mutmaßliche Täter damals verreist? Kann das Opfer die Nötigung genau beschreiben? Gibt es Motive für eine Falschbelastung? Und so weiter.

Selbst wenn der Staatsanwalt überzeugt ist, meldet häufig noch das Gericht Zweifel an und bestellt – wie im Fall von Sandra B. – deshalb einen Psychologen oder Psychiater. Das Gutachten erfolgt auf der Basis von in Merkmalslisten festgelegten Glaubwürdigkeitskriterien oder „Realkennzeichen“. Dazu zählen unter vielen anderen: Zugeben von Erinnerungslücken, überflüssige Details, spontane Selbstkorrekturen und die Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Aussage.

Sandra B. hat den Test nicht bestanden. Eine Gutachterin kam in dem Prozess zu dem Ergebnis, dass die Zeugin nicht glaubwürdig sei. Die junge Frau, eine Jurastudentin, war unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen worden. Ihre ersten Angaben seien sehr vage gewesen, sagt ein Justizsprecher. Später habe sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Und geschwiegen.

Vielleicht hatte Sandra B. da schon erreicht, was sie erreichen wollte. Die stundenlangen Vernehmungen, die Anklage, die Schlagzeilen in den Zeitungen. Der Kinderarzt hatte bereits bei der Polizei seine Unschuld beteuert und von einem Racheakt gesprochen. Sandra B. habe ihn angezeigt, weil er nicht gewillt gewesen sei, ihren „massiven Geldforderungen“ nachzugeben. Das Gericht hingegen glaubt, dass die aus der DDR stammende Familie die Wiedervereinigung nicht verkraftet hat. „Die Tochter wollte sich offensichtlich mit aller Gewalt von der Familie lösen.“ Katja Füchsel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false