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Berlin: Dienstbare Schönheit

Gute Architektur ist das Einfache, das so schwer zu machen ist – weil sie nicht nur dem Auge Freude bereiten soll, sondern auch haltbar und gut nutzbar sein soll. Vor allem aber muss sie auch in der Zwiesprache mit dem Ort harmonieren.

Die „Alten“, die antichi – von denen sich der Begriff der „Antike“ herleitet – , sahen die Sache vergleichsweise einfach. Ein gutes Gebäude, so der Römer Vitruv – der einzige Autor der Antike, von dem ein Traktat zur Architektur überliefert ist –, zeichne sich durch die Erfüllung dreier Anforderungen aus: Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit. „Festigkeit“ meint die Qualität des Bauens, die Standfestigkeit und Dauerhaftigkeit, zur damaligen Zeit dem erworbenen Können des Baumeisters zu verdanken. „Nützlichkeit“ bezieht sich auf die Zweckbestimmung des jeweiligen Gebäudes, der es so weit als möglich zu genügen hat. Und Schönheit, nun, das bedeutete zu den Zeiten Vitruvs, mithin denen von Cäsar und Augustus, die Harmonie der Proportionen und die Angemessenheit des Baudekors.

Im Grunde hat sich in den seither vergangenen zweitausend Jahren nichts geändert. Noch immer zeichnet sich gute Architektur durch ihre Dauerhaftigkeit aus; Grundsanierungen nach wenigen Jahren sind ärgerlich, und schnell ist der Vorwurf „Pfusch am Bau“ zur Hand, wie bei den Nachbesserungen am Hauptbahnhof. Nützlichkeit versteht sich von selbst, in der Marktwirtschaft ohnehin, weil sie unmittelbar mit der Gebäuderendite verknüpft ist. Aber auch privat stören uns tote Winkel und unnötige Wege.

Nur mit der Schönheit tun wir uns schwer. Wir haben nicht mehr, wie von Vitruv vorgestellt und von seinen Nachfolgern seit der Renaissance nochmals für Jahrhunderte befolgt, „Säulenordnungen“ zur Hand, um Fassaden zu gestalten und den Charakter eines Bauwerks auszudrücken. Es gibt keine Regeln mehr, wie Räume anzuordnen sind, welche Aufgaben die unterschiedlichen Stockwerke haben. Und doch sträubt sich etwas in uns, wenn wir unpassende Gebäude sehen, hässliche Kisten, unschöne Fassaden. Beim Hotel Adlon beispielsweise, so sehr es auch die einstige Nobelarchitektur am Pariser Platz in Erinnerung ruft, fällt die zu geringe Stockwerkshöhe ins Auge. Es „musste“ gegenüber dem historischen Vorgänger ein zusätzliches Geschoss eingeschoben werden.

Alle Kulturen, die Städte hervorgebracht haben, mit einer Hierarchie unterschiedlicher Bauaufgaben, haben ihre eigenen Vorstellungen von Schönheit gepflegt, von Harmonie und Ebenmaß. Das gilt gleichermaßen für die „europäische Stadt“, ein Begriff, der in den Berliner Architekturdebatten der neunziger Jahre häufig Verwendung fand. Da stehen Häuser nicht beziehungslos in der Gegend herum, da gibt es keine plötzlichen Sprünge zwischen Flachbau und Hochhaus, da ähneln sich benachbarte Fassaden in Dimension und Material. Die Berliner Vorgaben der neunziger Jahre nach Einhaltung der Baufluchtlinien und einer Traufhöhe von 22 Metern, wie zu sehen entlang der neu errichteten Friedrichstraße nördlich des Checkpoint Charlie, folgen dieser Vorstellung von Stadt.

Gute Architektur in diesem europäischen Sinne ist also zunächst einmal jene, die sich in das Erscheinungsbild einer bestimmten Stadt, eines bestimmten Ortes einpasst. Nicht im Sinne von zwanghafter Wiederholung, sondern von Rücksichtnahme. Man spricht dann vom „Ortsbezug“. Wenn in kleinteilige Städte wie Lübeck oder Regensburg so, wie es in den sechziger Jahren als fortschrittlich galt, Kaufhäuser und Parkhäuser hineingeklotzt werden, gerät das Gefüge der Stadt aus dem Gleichgewicht.

Ein bürgerliches Wohnhaus, wie es in den besseren Ecken von Charlottenburg die Regel ist, würde in einer von Fachwerk geprägten Kleinstadt, ob im Harz oder im Schwarzwald, als grobschlächtig erscheinen. Umgekehrt würde ein Fachwerkhaus in Berlin gewollt niedlich wirken. Es sei denn, dieser Effekt ist gewollt, um einen Zeitsprung deutlich zu machen, wie bei dem Restaurant-Häuschen „Paris – Moskau“ an der Straße Alt-Moabit, das bewusst vor dem fast fertiggestellten Neubau des Bundesinnenministeriums erhalten wurde. Das 30 Jahre alte IBA-Wohnhaus von Oswald Mathias Ungers hingegen wurde zu Recht abgerissen – es passte mit seinen Fensterchen und Giebeln von vorneherein nicht an den verkehrserfüllten Lützowplatz, sondern wirkte wie ein Zitat der kleinmütigen Nachkriegsbauten aus Ungers' Heimatstadt Köln.

Dimension, Material, Proportion, Gliederung, das sind Kriterien, anhand derer sich die Verträglichkeit eines Gebäudes ermessen lässt. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Max Dudlers Bibliotheksgebäude für die Humboldt-Universität parallel zu den Stadtbahnbögen in Mitte ist ein ganz und gar modernes Gebäude, das dem uralten Thema der Bibliothek huldigt und das Lesen feiert – in einem wunderbaren und wohl darum bei den Studenten so beliebten Raumerlebnis. Und womöglich „dauerhafter“, optisch weniger abnutzbar als die Geisteswissenschaftliche Bibliothek mit Spitznamen „Berlin Brain“, die Norman Foster in gewollt futuristischen Formen für Dahlem entwarf.

Gute Architektur muss darum nicht konservativ sein. Als Erich Mendelsohn Ende der zwanziger Jahre am „oberen“ Kurfürstendamm den „Woga“-Komplex mit „Universum“-Kino, der heutigen Schaubühne, und anschließenden Wohn- und Geschäftsbauten errichtete, brach er mit der Tradition der spätwilhelminischen Parzellenbauten ringsum und schuf dennoch ein großstädtisches Ensemble, das ganz auf den Charakter dieser Hauptstraße des Berliner Westens zugeschnitten war. Die Neubauten der Südlichen Friedrichstadt seit der Wiedervereinigung einschließlich des Potsdamer Platzes sind der Versuch, ein neues städtisches Leitbild in dieser weitgehend kriegszerstörten Gegend zu begründen, in das sich die einzelnen Bauten einfügen, ohne ein jeder für sich ein architektonisches Meisterwerk zu sein.

Christoph Mäcklers Hochhaus „Zoo-Fenster“ überragt alle Nachbarn, bringt aber mit seinen noblen Formen eine bis dahin vermisste Atmosphäre von Ordnung und Regelhaftigkeit in seine heterogene Umgebung. Die Feuerwache des Regierungsviertels, die Sauerbruch Hutton mit bunten, auf vertrackte Weise regelhaften Farbstreifen versahen, fällt ins Auge und soll das auch, weil sie eine besondere, Wachsamkeit erfordernde Aufgabe verkörpert. An dieser Stelle, im durchgrünten Niemandsland jenseits des Kanzleramtes, gab es keinen Ortsbezug zu achten. Die neuen Wohnbauten in Mitte und Prenzlauer Berg nehmen die hergebrachte Parzellenstruktur und Dimensionierung auf und können doch zugleich gänzlich neue Geschoss- und Fassadenlösungen verwirklichen, wie das voll verglaste Wohnhaus von Grüntuch Ernst an der Auguststraße. Oder David Chipperfields neuer Büro-, Kantinen- und Wohnkomplex gleich um die Ecke in der Joachimstraße, der die vorhandenen, bescheidenen Gewerbebauten in der Tiefe des Grundstücks einbindet, und das in ganz gewöhnlicher, unprätentiöser Betonbauweise. Aber mit einer souveränen Abfolge einzelner Baukörper, die auf diesem historischen Grundstück ganz neue Sichtbeziehungen schaffen.

Gute Architektur ist gut nutzbar. Sie erfüllt ihre Aufgabe. Heutzutage hängt alles an der Flexibilität von Grundrissen, jedenfalls im Geschäfts- und Bürohausbau; als ob jede Firma, jede Verwaltung, jede Kanzlei andauernd den Zuschnitt ihrer Büros ändern müsste. Das ist eher eine fixe Idee von Immobilienmaklern. Die Ausstattung von Arbeitsplätzen ändert sich beständig, die bevorzugten Grundrisslösungen, Hand aufs Herz, bleiben sich über Jahrzehnte zumindest ähnlich.

Das gilt auch im Privatbereich. Wohnungen sollen funktional sein, Hausarbeit steht nicht mehr an der Spitze der Beschäftigung. Kurze Wege, fließende Übergänge, die Integration der Küche in den Wohnbereich (und bei manchen die des Bades ins Schlafzimmer) sind das Leitbild von heute. Merkwürdigerweise sind gerade Altbauten der Jahre nach 1890 anhaltend beliebt, weil in ihnen eine Großzügigkeit verkörpert ist, die längst einer breiteren Mittelschicht zugänglich geworden ist. Zugleich werden die Kleinwohnungen der Zwanziger-Jahre-Siedlungen geschätzt, weil in ihnen jede Bewegung der Bewohner vorausbedacht ist und es keinen verschenkten Raum gibt. Großzügigkeit ist nicht unbedingt eine Frage der messbaren Ausdehnung.

Gute Architektur dient dem Menschen. Das klingt banal und ist doch immer wieder eine Herausforderung an Bauherren und Architekten. Denn in einer immer weiter sich differenzierenden Gesellschaft mit immer spezielleren und dennoch provisorischen Berufsbildern kann es „die“ Architektur nicht geben, sondern nur viele Architekturen. Architektur für Single-Haushalte und Mehrgenerationen-Familien, für Kinderlose und Kinderreiche, für Feierabendgenießer und für Home Office-Selbstständige. Daraus folgt, dass nicht jeder Haushalt ein Leben lang dieselbe Wohnung bewohnt, dasselbe Eigenheim; so wenig, wie der Arbeitsplatz immer ein Nine-to-five-Job bleiben wird, mit Wochenende ab Freitagmittag, oder sich nicht längst schon in Teilzeitjobs an wechselnden Orten auflöst.

An der erfolgreichen Umnutzung vorhandener, bisweilen lange Zeit leer stehender und still verrottender Altbauten hat sich längst gezeigt, dass gute Architektur nicht so sehr an Mauern, Geschossteilungen, Fensteröffnungen gekoppelt ist, an die Substanz des Gebäudes. Sondern dass Nutzbarkeit immer stärker von der technischen Ausstattung abhängt, angefangen mit Sanitäreinrichtungen, Aufzügen, Elektroleitungen bis hin zu „intelligentem“ Gebäudemanagement.

Gute Architektur lässt sich immer wieder neu und anders nutzen. Die Umnutzung Kreuzberger Gewerbehöfe als Lofts, etwa in der Reichenberger Straße, oder eines ganzen Gewerbeblocks zwischen Tor- und Linienstraße in Mitte, für großzügige „Wohnlandschaften“, beweisen es. Aber so furchtbar anders sind die Nutzungen nicht. Sondern die gestalterischen Formen und technischen Hilfsmittel, in denen die gleichbleibenden Nutzungen daherkommen, ob Kontor oder Großraumbüro, Herrenzimmer oder Wohnlandschaft, ob mit Kohleofen oder Fußbodenheizung.

Dass Gebäude alle dreißig Jahre abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden sollten, wie es die Moderne der zwanziger Jahre forderte, erscheint nicht länger als vertretbares Konzept. Der gesamte Komplex des „Bikini-Hauses“ an der Gedächtniskirche wird, nach der Entkernung bis auf das tragende Stahlbetonskelett, bald schon erneut und sogar vielfältiger als zuvor genutzt werden. Gute Architektur soll, wie zu Vitruvs Zeiten, zumindest haltbar sein, dann ergibt sich ihre Nutzbarkeit schon fast von alleine. Und über Schönheit lässt sich ohnehin lustvoll streiten.

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