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Drogenhandel: Kommt der Zug, kommt auch der Dealer

Der schnelle Drogenhandel im Untergrund – auf fast allen U-Bahn-Stationen gibt es das. Jetzt will die Polizei massiv dagegen vorgehen.

Die Frau mit der roten Jogginghose wartet auf den Zug nach Wittenau. Sie beugt sich weit nach vorn, damit sie in den dunklen Tunnel schauen kann. Nichts. Die Frau wendet sich der anderen Seite zu, Richtung Hermannstraße. Bald ist sie nicht mehr allein, ein Mann im Blaumann kommt, dann noch einer, und nach fünf Minuten sind sie schon zu acht auf dem U-Bahnhof Bernauer Straße. Alle haben sie eingefallene Wangen, sie wirken fahrig, einer raucht. „Wo bleiben die bloß?“, fragt der Mann im Blaumann.

Endlich, sie kommen.

Ein paar junge Männer steigen aus der U-Bahn. Kurze Begrüßung. Silberne Kügelchen und Geldscheine wechseln die Besitzer. Man kennt sich, Preise müssen nicht lange verhandelt werden. Die Junkies taumeln die Treppe hinauf ins Freie, die jungen Männer springen in den nächsten Zug. Eine junge blonde Mutter steigt aus. Suchend schiebt sie einen Kinderwagen über den verlassenen Bahnsteig.

Alltag in der Berliner U-Bahn. Dass hier gedealt wird, ist nicht neu. Für Touristen gehört der Drogenhandel zur Berliner Folklore, seit Christiane F. vor bald dreißig Jahren das Buch von den Kindern auf dem Bahnhof Zoo geschrieben hat. Neu ist, dass die Berliner Polizei massiv dagegen vorgehen will, mit der eigens dafür gegründeten Sonderkommission, sie trägt den schönen Namen „Sinod“ („Sicher im Nahverkehr ohne Drogen“). Polizeipräsident Dieter Glietsch verspricht Videoüberwachung und verstärkte Präsenz, denn das Problem hat neue Dimensionen angenommen. Auch, weil die Polizei vor vier Jahren ihre gemeinsamen Streifen mit der BVG eingestellt hat. Nach einer Studie von Innensenator Ehrhart Körting gibt es „nahezu im gesamten U-Bahnverkehr günstige Tatgelegenheitsstrukturen für den Drogenhandel“.

Im Untergrund verschwimmen die sozialen Grenzen, die oben gelten. Selbst Bahnhöfe in bürgerlichen Gegenden wie Heidelberger Platz, Hohenzollerndamm, Theodor-Heuss-Platz oder Neu-Westend werden in Körtings Statistik als Kriminalitätsschwerpunkte geführt. Der gemeine U-Bahnfahrer hinter seiner Zeitung bekommt davon wenig mit. „Normalerweise wird ein Deal in der U-Bahn nur angebahnt“, sagt ein Polizeisprecher. „Der Dealer hat irgendwo draußen seinen Bunker“, ein Versteck, in dem er die Drogenpäckchen deponiert hat. Jeder Dealer hat nur so viel an Drogen dabei, dass die gesetzlich festgelegte Menge des Eigenbedarfs nicht überschritten wird. Der Handel wird meist auf großen, belebten Plätze abgewickelt oder in ausgedehnten Grünflächen, aber immer im Verborgenen. Kunden und vor allem Verkäufer sind nicht dran interessiert, beobachtet zu werden.

An der Bernauer Straße ist das anders. Offen und aggressiv läuft der Drogenhandel auf dem ehemaligen Geisterbahnhof zwischen Wedding und Mitte. Auch an dem Tag, für den der Tagesspiegel das Debüt der neuen Sonderkommission angekündigt hat. Drogenhändler haben morgens Besseres zu tun als Zeitung zu lesen. Pünktlich zum Schulbeginn nehmen sie am Freitag die Arbeit auf.

Um Diskretion bemüht man sich hier schon lange nicht mehr. Wenn die Dealer aus einer einfahrenden U-Bahn springen, zeigen sie bereitwillig die Stanniolbällchen, in denen das Heroin verpackt ist. Sie lachen, sie reden laut, ihre Körpersprache lässt jeden spüren: Wir haben hier gar nichts zu befürchten! Der jüngste ist vielleicht 15, der älteste höchstens 20 Jahre alt.

Zu Mauerzeiten gehörte die Bernauer Straße zum West-Berliner Bezirk Wedding, der U-Bahnhof aber lag auf Ost-Berliner Gebiet. Zwischen 1961 und 1989 war der Bahnhof geschlossen, die Züge der Linie 8 passierten auf ihrem Weg von Wedding nach Neukölln im Schritttempo. Vor ein paar Jahren wurde der Bahnhof mit neuen, pastellgelben Wandfliesen ausgestattet. Und doch ist die beklemmende Stimmung aus der Zeit der Geisterfahrten zurückgekehrt. Damals war es die Obrigkeit in Gestalt der DDR-Grenzsoldaten, die das Unbehagen hervorrief. Heute ist es die Unterwelt.

Ein Anwohner, er will seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen, erzählt, wie er an der Bernauer Straße einmal mit den Dealern aneinandergeraten ist. Er hat gar nichts getan, nichts gesagt, nur böse geguckt, und auf einmal standen die Jungs um ihn herum, sie rasselten mit ihren Goldkettchen und riefen: Was guckst du? Was willst du?

Das bedient wunderbar das Klischee, nach dem Drogendealer immer arabische oder türkische Jugendliche mit Basecaps und Goldkettchen sind. Das Klischee mag politisch unkorrekt sein, aber an der Bernauer Straße trifft es zu. Die jungen Männer mit den Stanniolbällchen sind Araber, sie tragen Basecaps und Goldkettchen. Nach ein paar Tagen der Beobachtung fällt einem auf, dass es immer dieselben sind. Mal fünf, mal sechs, mal acht. Sie sitzen auf der Bank in der Mitte des Bahnhofs und warten auf die Junkies. Oder die Junkies warten auf die Dealer, wenn die gerade zwischen Bernauer Straße und Weinmeisterstraße pendeln oder ihre Bunker in der Nähe der Bahnhöfe aufsuchen. In dringenden Fällen können die Stanniolbällchen auch telefonisch bestellt werden – am Nordausgang des U-Bahnhofs Bernauer Straße steht ein gut frequentierter öffentlicher Fernsprecher. Die Mobilität und die Abwesenheit von Personal macht das Dealen im Untergrund so attraktiv.

Die U-Bahnlinie 8 kommt aus Gesundbrunnen mit seinem Ausländeranteil von gut 40 Prozent. In Mitte gibt es höchstens mal eine Dönerbude. Der Anwohner, der lieber anonym bleiben will, sagt, die Dealer würden alle im benachbarten Wedding wohnen, aber dort habe er noch nie jemanden beim Dealen gesehen. Alle hätten Angst, Verwandte könnten sie bei der Arbeit beobachten.

Ein Polizist sagt, am besten lasse man die Dealer in Ruhe, dann passiere einem auch nichts.

Was wird sich ändern mit der neuen Polizeistrategie? Schon die gemeinsamen Streifen mit der BVG waren im Juli 2003 offiziell wegen eines veränderten Einsatzkonzeptes abgeschafft worden. An der Bernauer Straße ist am Freitag noch nicht viel zu sehen von dem, was im Polizeideutsch „täterorientierter Ansatz zur effizienten Identifizierung und Strafverfolgung“ heißt. Weit und breit keine Uniform zu sehen, die Ordnungsmacht hier sind die Jungs mit den Goldkettchen und den Basecaps.

Der anonyme Anwohner sagt: Die Polizei ist doch froh, dass sie Bescheid weiß und der Drogenhandel nicht unkontrolliert wuchert.

Das mag strategisch klug gedacht sein, aber was sollen die Menschen sagen, die hier leben? Der Bahnhof Bernauer Straße liegt im Einzugsbereich von drei Schulen. Eltern erzählen, dass ihre Kinder schon im Alter von zehn, elf Jahren von den Dealern angesprochen werden. Der Weinbergspark ist nicht weit weg, der Mauerpark auch nicht, beides sind Drogenschwerpunkte. Die Stimmung war schon mal besser in der einst ruhigen Wohngegend. Viele haben Angst, bei ihnen um die Ecke werde es in naher Zukunft so zugehen wie am Kottbusser Tor.

Elf Minuten sind es mit der U-Bahn zum „Kotti“, dem Drogenumschlagplatz Nummer eins in Berlin. Oben ist eine Fixerstube, in der Süchtige unter Aufsicht spritzen dürfen. In dem rosa gefliesten Zwischengeschoss des U-Bahnhofs hat sich das Drogenmilieu einen festen Platz erkämpft. Es wird genauso offen gedealt wie an der Bernauer Straße, aber die Stimmung ist auf eine unwirkliche Art entspannter. Beinahe wie auf einem Basar. Ein Junkie will mit großem Schein bezahlen, der Dealer kann nicht herausgeben und sagt: „Geh mal draußen Geld wechseln, dann kannste wiederkommen.“ Es riecht nach Urin und Zigarettenrauch, und natürlich gibt es auch hier ein öffentliches Telefon. Die Kunden stehen Schlange. Ab und zu schickt die BVG ihren Ordnungsdienst vorbei. Männer in blauen Uniformen mit Schäferhunden an der Leine. Dealer, Junkies und Obdachlose gehen dann nach oben, bis die Streife wieder abgezogen ist. Am Kottbusser Tor leben Ordnungsmacht und Parallelgesellschaft in friedlicher Koexistenz.

Zurück mit der U 8 nach Mitte. 25 Minuten sind vergangen seit dem letzten Deal, und der Bahnhof Bernauer Straße ist immer noch leer. Hinten, am öffentlichen Fernsprecher, steht die junge blonde Mutter mit dem Kinderwagen. Als die U-Bahn an ihr vorbeifährt, sieht man ihre eingefallenen Wangen, sie zieht an ihrer Zigarette und schaut auf die Uhr. Wo bleiben die bloß?

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