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Berlin: Eberhard Specht (Geb. 1915)

Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen lässt ihn warten

Es gab einmal ein Schloss in Dolgenbrodt, 20 Kilometer südöstlich von Berlin. Die Dorfbewohner nannten jedenfalls das Gutshaus „Schloss“. Heinrich Specht, der Vater von Eberhard Specht, ein Holzhändler aus Westfalen, hatte es zusammen mit 300 Hektar Land in den zwanziger Jahren erworben.

Eberhards Mutter Badana, eine aus Russland stammende Jüdin, kochte ihren Tee im Samowar, während der Vater Eberhard in die Forst- und Landwirtschaft einführte. Der Vater galt als aufrechter und hilfsbereiter Mann, Eberhard, den alle Hardy nannten, spielte mit den anderen Jungen des Dorfes. Als die Nazis an die Macht kamen, änderte sich die Stimmung. Hardy galt jetzt als „Halbjude“, im Holzhandel des Vaters blieben die Aufträge aus. Eberhards Schwester reiste 1938 zu einem Onkel nach Brasilien und blieb dort. Als die anderen ihr folgen wollten, war das schon nicht mehr möglich.

In den letzten Kriegstagen bricht das Unglück über sie herein. Der Vater, der mit der Widerstandsbewegung „Freies Deutschland“ sympathisiert, versteckt fahnenflüchtige Flakhelfer. Drei Gestapo- Männer kommen ins Gutshaus und zitieren Heinrich Specht zum Verhör. Es wird laut, es knallt ein Schuss. Es heißt, der Gutsherr habe sich selbst erschossen.

Mutter Baldana ergreift die Flucht. Sie täuscht in einem Brief einen Selbstmord vor und versteckt sich mit Hardy in einem Forsthaus. Das Gutshaus wird geplündert, zwei Wochen später nimmt die Rote Armee das Dorf ein. Kaum kehren Mutter und Sohn zurück und wollen die Sommerernte einfahren, wird ihnen verkündet, dass sie ihr Land innerhalb von 24 Stunden zu verlassen haben. Das Gut wird neu aufgeteilt, das Gutshaus abgerissen. Türen, Fenster und der helle Sandstein werden in neuen Häusern des Dorfes verbaut.

Eberhards Mutter verliert ihren Mut und stürzt sich in den Tod. Er versucht, mit einem befreundeten Paar in die Schweiz zu gelangen. In Konstanz wird er vom Schweizer Zoll festgenommen und landet für drei Wochen im Gefängnis der französischen Besatzungsmacht. Erst 1947 gelingt ihm mithilfe eines Anwalts die Einreise in die Schweiz. Ein halbes Jahr später erhält er das Visum für Brasilien und fährt auf einem Frachtschiff von Genua über den Atlantik.

Seine Freunde Annemarie und Frederico sind bereits dort. Mit ihnen zieht zieht er in São Paulo unter ein Dach. Es ist eine aus der Not geborene Dreiecksbeziehung, die ein Leben lang hält. Sie sprechen Deutsch miteinander, aber an eine Rückkehr in die Heimat denken sie nicht. Sie versuchen sich im Bierhandel und verkaufen Kunst und Antiquitäten. Die treuesten Begleiter, die sie kennen, sind ihre Hunde.

Schon gegenüber der DDR versucht Hardy die verlorenen Ländereien zurückzubekommen – ohne Erfolg. Mit der deutschen Wiedervereinigung hofft er auf eine neue Chance. Das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen lässt ihn warten. 1997 bekommt er Post: die Ablehnung der Rückübertragung. Es spräche „keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen mit Enteignungscharakter“. Eine Enteignung im Zuge der Bodenreform nach dem Krieg könne man laut Einigungsvertrag nicht rückabwickeln. Eberhard Specht schreibt an den Bundesfinanzminister einen Brief und der Minister verweist auf den Bescheid der Landesbehörden.

2005 entscheidet das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen zu Hardys Gunsten: Vier Flurgrundstücke, die der Gemeinde gehören, sollen zurückgegeben werden. Dagegen klagt die Gemeinde. Ein halbes Dorf steht auf unsicherem Terrain. Eberhard Specht, inzwischen 90, hat nie viel besessen. Nun wird auch seine Lebenszeit knapp. Das Verwaltungsgericht in Cottbus lässt sich Zeit.

Annemarie stirbt, und Hardy wird von seinem Anwalt eingeladen, nach Deutschland überzusiedeln. Nach 50 Jahren Exil betritt er wieder deutschen Boden. Er staunt, wie groß die Bäume in Berlin und Dolgenbrodt geworden sind, so riesig! Er zieht in eine Parterre-Wohnung in Klein-Machnow und freut sich über jede Gesellschaft und Feier, die er noch miterleben darf.

2013 kommt das Cottbuser Verwaltungsgericht zu einem Ergebnis – zugunsten der Gemeinde: Nicht die Nazis hätten die Spechts enteignet, sondern das Land sei durch die Bodenreform von 1946 aufgeteilt worden. Hardy zieht vors Bundesverwaltungsgericht, das nur zwei Jahre für sein Urteil braucht: Die Spechts hätten von den Nazis nichts anderes als Verfolgung und Enteignung erwarten können. Das Land gehört also Hardy.

Als das Urteil im April 2015 verkündet wird, liegt der 99-Jährige im Krankenhaus. Er ist spindeldürr geworden. Lächelnd nimmt er die Neuigkeit auf. Ob er nun glücklich ist, fragt ihn sein Anwalt. Hardy sagt, das Glücklichsein habe er sich vor langer Zeit abgewöhnt. In seinem Testament verfügt er, dass ein Teil seines Besitzes in eine Stiftung übergehen soll. Wenige Tage darauf stirbt er. Neben dem Grab seiner Eltern in Dolgenbrodt wird er beigesetzt. Ein Zuhause habe er sich immer gewünscht, hat er einmal gesagt.

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