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Berlin: Edith „Christel“ Lehmann (Geb. 1917)

Dies Mädchen zum Beispiel: eine Aldehydnote.

Richtig glücklich fühlt Edith sich nicht an jenem Sommernachmittag. Die Wirtschaftskrise hat ihrem Vater die Arbeit geraubt, und ihre Mutter ist Hausfrau, also ebenso ohne Verdienst. Für die Sechzehnjährige bedeutet es: Runter vom Lyzeum, auf das sie so gerne geht. Gute Noten hat sie auch.

Irgendein verantwortlicher Schicksals-Koch vernimmt Ediths Klage, bekommt ein schlechtes Gewissen und führt sie vor ein Schaufenster. „Verkäuferin gesucht“ steht da auf einem Pappschild. Und als ob das in jenen brotlosen Zeiten nicht schon märchenhaft genug wäre, erblickt Edith hinter dem Fenster nicht etwa schnödes Alltagsgemüse, sondern Parfümflaschen und ein Meer von Stoffblumen. Stoffblumen! Das ist der allerletzte Schrei.

Drinnen steht Harry Lehmann, Gründer und Inhaber des Geschäfts. Große Krüge stehen in seinen Regalen, gefüllt mit golden schimmernden Ölen, Düfte, die er selbst kreiert hat. Wenn Kunden es wünschen, lässt er sie so lange von ihren Vorlieben und Abneigungen erzählen, bis er ihnen ein maßgeschneidertes Parfum, um nicht zu sagen: eine duftende Variation ihrer Persönlichkeit zusammenmischen kann. Mit den Jahren hat er es in seiner Menschenkenntnis zu großer Meisterschaft gebracht.

Dies Mädchen zum Beispiel, das da gerade hereinkommt: eine Aldehydnote. Ein ausgewogener Duft also, gesundes Mittelmaß. Die geborene Verkäuferin, und, ja, vielleicht auch Gefährtin?

Ich werde dich Christel nennen, sagt er kurze Zeit später zu der erstaunten Edith. Warum? Weil er sie ausbilden wolle, und da müsse er sie mehrmals täglich rufen. Edith aber heiße schon seine geschiedene Frau, und wer möchte ständig an eine zerbrochene Liebe erinnert werden? Das möchte niemand, ein Parfümier und Blumenhändler schon gar nicht, das sieht das Mädchen ein.

Christel macht sich gut, ganz so, wie Harrys Nase es gewittert hat. Sie arbeitet, ohne zu seufzen, berät die Kunden freundlich aber bestimmt und weiß sich elegant zu kleiden.

Bald schon können sie es kaum erwarten, am Samstagabend den Laden abzuschließen, um rauszufahren zum Glindower See, zur Liebesinsel, auf der sie ihr Zelt aufschlagen. Bald schon sind Christel und ihr zwanzig Jahre älterer Chef ein Ehepaar.

Als alles am schönsten blüht, die Liebe und das Geschäft, dröhnt Fliegeralarm. Harry, noch aus dem Ersten Weltkrieg zu schwer verletzt, um wieder an die Front geschickt zu werden, kriecht unter Trümmern umher. Es sind die Trümmer der Filiale an der Friedrichstraße, erst vor wenigen Jahren eröffnet. Unter ihnen riecht es zart nach Maiglöckchen, an anderer Stelle nach Sandelholz, an anderer nach Moschus. Hier und da ein Fläschchen, das ganz geblieben ist. Unter Lebensgefahr birgt er die flüchtigen Düfte, die seine und Christels Existenz bedeuten.

Schon im Jahr 1946 berät, nein, behandelt Christel wieder Kunden. Blass und ausgemergelt sehen sie aus, dafür aber umso entschlossener. Sie verlangen nach den süßen Tropfen, um gegen die Erinnerungen an Feuer- und Verwesungsgeruch anzuduften. Auch die Stoffblüten gehen gut, die Frauen stecken sie sich an die Hüte, ein Friedensgruß.

Gerade wollen Christel und Harry tief durchatmen in ihrem Parfümlabor an der Friedrichstraße, als sie von einem lauten Knurren gestört werden: In der Tür stehen ein paar Herren mit Dobermännern. Im Westteil wohnen und im Ostteil Geschäfte machen, so geht das nicht, sagen die und bieten an, die Hunde von der Leine zu lassen. Harry und Christel breiten im Schaufenster ein rotes Samttuch aus, darauf ein Sträußchen Vergissmeinnicht. Dann stopfen sie sich Blumen und Öle unter die Mäntel und verduften Richtung Ku’damm.

Immer öfter ist es Christel, die die Parfüms der Marke „Harry Lehmann“ herstellt und entwickelt. Sie schüttelt die 50-Liter-Glasballons, filtriert, riecht, ergänzt. Sie tritt in Talkshows und in Radiosendungen auf, referiert über die 50 bis 70 Duftöle, die in einem Parfüm enthalten sind, sie steht in fast allen Berlin-Reiseführern, führt mehrere Filialen parallel.

Fünfzig Jahre ist Christel alt, als Harry stirbt. Sie verbirgt ihre Trauer, die sie sich ebenso wenig leisten mag wie eine neue Liebe. Sie muss die Kasse voll kriegen, für sich selbst und für die beiden Söhne. Trost findet sie im Jasminduft ihres Lieblingsparfüms.

Nur manchmal hört man Christel, die ausgeglichene, laut seufzen. Die neueste Widrigkeit heißt „Richtlinie“: Immer mehr Stoffe werden den Parfümherstellern verboten. Thymian etwa oder Lavendel, Eisenkraut, Eichenmoos. Hat je eine Kundin von diesen Ölen Pickel gekriegt? Nicht eine einzige, behauptet Christel ehrlichen Herzens. Wohl aber irgendeine Ratte im Labor.

Und dann diese Konzerne, die überall die Mieten hochschrauben. Eine Filiale weicht Teppich-Kibek, eine andere einem großen Kino. Einzig Christels Laden in der Kantstrasse bleibt. Und wie der bleibt. „Mutti, können wir nicht mal diese Stoffblumen aus dem Programm nehmen?“ Christel hört weg. Harry Lehmann, das heißt: selbstgemachtes Parfüm und Stoffblumen. Eine Mischung, die sie zuverlässig über die Abgründe des 20. Jahrhunderts hinweggetragen hat.

Noch als Achtzigjährige sitzt sie täglich in ihrem Geschäft, berät die Kundinnen und ihren Sohn, der jetzt die 50-Liter-Ballons schwingt. Ganz selten nur kommt es vor, dass Christel sich zurückverwandelt in Edith, die man leise sagen hört: „Ins Lyzeum bin ich aber trotzdem gern gegangen!“ Anne Jelena Schulte

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