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Berlin: Ein echter Silvesterkracher

Berliner Verbrechen: Die Krimiautorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle

Mario Krichbaum ist ein Bild von einem Mann. 37 Jahre alt, baumlang, durchtrainiert, mit sonnenbraunem Teint. Ein gut gelaunter, charmanter Kerl. George Segal würde sein MuscleShirt fressen vor Wut, dass jemand ohne Lichtregie und Schminke so blendend aussehen kann. Auch die dunklen Haare sind wieder da. Sein Lebensrhythmus nicht. Der ist hin seit den letzten Minuten des Jahres 2004. Um 23 Uhr 37 kracht es links neben ihm, die Scheibe des BMW splittert, etwas trifft ihn am Kopf, reißt ihn nach rechts, auf seinen Beifahrer. „Ich hab nur noch schwarz gesehen. Ende. Aus“, erzählt er. Als er wieder zu sich kommt, sieht er erstmal nur rot. „Meine Hände, mein Kopf, meine Kleidung, alles voller Blut.“ Bewegen ist nicht, der Ruck, mit dem er auf den Beifahrer geknallt ist, hat Nerven eingeklemmt. Er sieht das Loch im Fahrerfenster, „groß wie ein Fünfmarkstück“. Er schreit: „Die müssen auf uns geschossen haben!“ Er will raus und kann nicht. Er zerrt mit links den Rückspiegel zurecht, bis er sich sehen kann. Tastet seinen Kopf ab. Fühlt zwei Löcher. „Da kam das Blut her. Ich hab zwei Finger reingesteckt, um das abzudrücken, meinen Kollegen angeschrien: „Ich möcht’ hier nicht sterben!“

Mario Krichbaum ist Polizeihauptmeister im Abschnitt 42. Der ist in einer Villa in der Schöneberger Hauptstraße untergebracht. Unterwegs dahin waren Krichbaum und sein junger Streifenkollege. Unterwegs sind sie ständig seit kurz vor 18 Uhr, wegen „hilfloser Personen, Alkohol, Schlägereien – allem, was das Polizeileben so hergibt“. Auch Feuerwerkskörper krachen lange vor Mitternacht. Einer hatte sich in Friedenau zu irgendeiner Isolation durchgekokelt und den Dachstuhlbrand verursacht, von dem sie gerade kommen. Schnell rein, Bericht schreiben. Damit sie um Mitternacht wieder auf der Straße sind, wenn’s richtig losgeht.

Silvester ist immer heftig, überall in Berlin. Aber dieses Jahr brennt in Schöneberg die Luft. Seit Sommer marodieren Jugendbanden in der Gegend Alvensleben- und Steinmetzstraße. Halbwüchsige aus deutschen Klein- und arabisch-türkischen Großfamilien, die irrtümlich das Faustrecht für das Gesetz der Straße halten und auch immer wieder versuchen, Polizei und Feuerwehr in Hinterhalte zu locken. Ein paarmal müssen Uniformierte mit ihren Funkwagen unverrichteter Dinge abziehen, zu ihrer eigenen Sicherheit. Daraufhin nehmen sich die verschiedenen Zivileinheiten den Kiez vor. Darunter das Mobile Einsatzkommando (MEK) des Landeskriminalamts (LKA 6, Spezialeinheiten). Berlin hat als bisher einzige Stadt bundesweit auf „Gewalttäter im Bereich der organisierten Kriminalität“ spezialisierte MEK-Teams. Sie befassen sich auch mit „andersethnischen Gruppierungen“. Unverdeckt und intensiv. Einer der Teamführer, Spitzname Schwede, beschreibt, was damit gemeint ist: „Wir haben erfahren, dass Kollegen aus Streifenwagen da zu hören gekriegt haben: Haut ab, das ist unsere Straße, wir lösen unsere Probleme selber! Wir haben angefangen, die Gegend systematisch zu überprüfen.“ Der 30-jährige Kriminaloberkommissar nennt das „straff ansprechen“: „Ich stelle mich vor als Polizeibeamter, ich gebe klare Handlungsanweisungen, werden die nicht befolgt, hat das sofort Konsequenzen.“ Handfesseln beispielsweise. Brennende Zigaretten kommen aus. Geredet wird Deutsch. Die Papiere sind besser vorhanden, geklaute Handys und Betäubungsmittel dagegen besser nicht.

Langjährige Beobachtung und Familienkunde sind hilfreich. Weiß man, wer Clanchef ist, kann man auf die „internen Strafsysteme“ setzen. Auf diese Weise hat sich der eine oder andere Filius bei Polizisten entschuldigen müssen, „ein extremer Gesichtsverlust“. Ein Machtspiel, das die Polizei gewinnen muss. Ruhe reinkriegen. Und dafür sorgen, dass die kleinen Schlaumeier nicht der Illusion erliegen, mit der einen Sorte Polizisten kann man das Michele treiben, bei der anderen muss man sich benehmen. Der notorische Unruheherd kühlt ab. Aber aus ist er nicht.

„Wir hatten im November erfahren, dass ein paar der Jugendlichen die Silvesternacht nutzen wollen“, sagt Peter Glaser, der Leiter des Abschnitts 41, zu dem der Kiez gehört. Man wolle Polizisten wieder mal in fingierte Alarme locken und beschießen, mit Feuerwerkskörpern. Polizeidirektor Glaser ist Silvester 2004 der Einsatzleiter auf Abruf und vorbereitet auf das „Cowboy-und-Indianer-Spiel“, bei dem neben Erfahrung und Dienstvorschriften Phantasie gefragt ist. „Die Gegenseite hat Phantasie, und wir müssen unsere dagegensetzen. Also haben wir in die Trickkiste gefasst.“ Ungewöhnlich viele Beamte sind im Einsatz, uniformierte und noch mehr solche „mit Papphut und Sektflasche in der Tasche“. Bis zum späten Abend bleibt es ruhig. Ein Mal werden Polizisten mit Knallkörpern beschmissen, das ist woanders und kein Hinterhalt. Schwede und sein Team ziehen ab in andere Problemfelder. Glaser fährt zu Tochter und Enkeln und hält sich an der Kaffeetasse fest, während die anderen zum Wein übergehen. Auch Gary Menzel, der Leiter von Krichbaums Abschnitt 42, feiert zu Hause. Krichbaums Dienstgruppenleiter Lars Lehmann ist im Dienst. „Wir hatten eine Lebensmüde im Krankenhaus abgeliefert und waren auf dem Weg zurück“, erinnert sich der 44-jährige Polizeihauptkommissar, „da kam kurz vor Mitternacht über Funk: Ein Kollege ist angeschossen worden“.

Die Notärztin sieht die Kopfwunde und ruft: „Hier ist mit einer scharfen Waffe geschossen worden. Vorsicht!“ Wenn der Schütze weiterballert, sind alle im Schussfeld. Lehmann findet mit Entsetzen einen Mitarbeiter auf der Trage, „ ein Kerl von einem Mann so hilflos“, und den anderen physisch halbwegs intakt, aber psychisch angeschlagen. Lehmann organisiert Betreuung. Schwede und seine Nachtschwärmer werden vom Funk aufgescheucht: „Schuss auf Kollegen – da gibt’s niemanden, der ruhig seinen Dienst weiterschiebt!“ Sie rasen aus Hellersdorf heran. Gary Menzel erfährt davon, nachdem die Sektkorken geknallt haben. Auch er rast los, ins Krankenhaus, wo Mario Krichbaum zusammengenäht wird. „Auf dem Weg hab ich überlegt, wie bringe ich das seiner Frau bei?“ Aber das hat der längst selbst erledigt. Er ist seltsam kregel. Reißt Witze. Verhandelt mit dem Chirurgen. In Krankenhäusern wird ihm speiübel. Er war zu viel in Krankenhäusern. Seine Mutter ist in einem an Krebs gestorben. Er kann da auf keinen Fall bleiben.

Martina Krichbaum war mit der achtjährigen Tochter bei ihrer Mutter, Fondue essen. Der 13-jährige Sohn aus ihrer ersten Ehe feiert mit seinem Vater. Sie haben angestoßen. Jetzt stehen sie auf dem Balkon und warten, dass der Papa anruft und Prost Neujahr sagt. Martina Krichbaum ist auch Polizistin, in einem ruhigeren Abschnitt in Tegel. Dass Mario noch nicht angerufen hat, beunruhigt sie nicht. Um 20 nach 12 klingelt das Telefon. „Da ist mir fast der Hörer aus der Hand gefallen“, erzählt sie. „Ich musste mich hinsetzen, Zigarette rauchen.“ Und dann fährt sie mit Katharina ins Krankenhaus, obwohl er das nicht wollte, und ist erst wieder richtig in der Welt, als sie gesehen hat: „O Gott, ja - er lebt, er macht schon wieder Sprüche.“ Katharina scheint den Anblick ihres Papas mit den Blutresten und dem Verband um den Kopf gut wegzustecken.

Mario Krichbaum wird auf eigenen Wunsch entlassen, obwohl Martina dagegen ist. Wie kann sie helfen, wenn der Kreislauf versagt? Er in Schockzustand gerät? Es geht gut. Aber die Entlassung sieht später, in der Presseerklärung, so aus, als sei das Ganze eine Lappalie. Dabei ist Mario Krichbaum schwer verletzt. Er hat nur Glück gehabt. Sekundenbruchteile früher am Ort, und die Kugel wäre nicht über dem linken Ohr ein und gleich hinten wieder ausgetreten, sondern ins Hirn eingedrungen. Er hatte Glassplitter in der Wunde, im Mund und auf der linken Gesichtshälfte. Der eingeklemmte Nerv in der Schulter verursacht Lähmungen in der Hand. Eine Zeit lang halten ihn die Prozeduren vom Grübeln ab – Papierkram mit der „Dienstunfallabrechnungsstelle“, juristische Nachwirkungen. Sein Chef Lehmann findet im Internet heraus, wie man Nebenkläger wird und dass man ein Recht auf Prozesskostenhilfe hat. Ohne Anwalt gibt’s keine Akteneinsicht, die Behörde bezahlt keinen, und wer kann schon Anwaltskosten vorschießen? Bald bricht die Lockerheit weg. Abends, wenn die Kinder im Bett sind, fällt das Erlebte über ihn her. Nachts schläft er oft verkrampft zusammengerollt. „Da wache ich morgens auf und bin hundskaputt, als hätte ich gar nicht geschlafen. Meine Psychologin meint, das ist die Wut, immer noch.“

Wut, dass der Mann, der auf ihn geschossen hat, seinen Lebensrhythmus zerstört hat. „Ich mache Kampfsport, Taek-Won-Do, ich boxe, ich bin in den Wäldern mit dem Hund, wir machen Ausflüge mit der Familie – das ist alles weg. Ich mache nur noch Reha-Reha-Reha“, sagt er und lacht verlegen. Am liebsten wäre er am 2. Januar wieder im Dienst erschienen. „Ich bin gern Polizist. Ich muss auf die Straße, Leuten helfen.“ Dass ihm geholfen werden muss – daran knabbert er. Und an der Angst, die er nie hatte. „Der Todesgedanke – was wäre wenn? Ich schwer beschädigt. Tot. Nicht mehr für die Familie da - alles vorbei.“

Er hat die Kinder zu beruhigen versucht. Er weiß jetzt, was für Fehler man dabei machen kann, aus Überfürsorglichkeit. Weniger bei seinem Stiefsohn. „Mama hat’s mir am nächsten Tag erzählt, als ich von meinem Vater kam“, erzählt Alexander, „erstmal habe ich geweint. Dann bin ich zu Mario, und der hat mich getröstet. Jetzt ist, glaub ich, alles ganz okay.“ Auch weil er seine Kumpels hat, seine Lieblingslehrerin, „in Religion, das ist sowieso unsere Heulstunde, da können wir alles loswerden“. Bei Katharina ist es anders. Dass sie gelitten haben könnte, quält den Vater, und er quält sie – ohne es zu ahnen – mit Fragen. „Hast du Albträume gehabt? Geht’s dir gut?“ Jeden Morgen. Weil sie ihn einmal gefragt hat: „Papa, wollte der Mann dich töten?“

Martina Krichbaum geht anders mit dem Ereignis um. „Mir kam Mario anfangs zu locker vor, ich war fast eifersüchtig. Mir tat alles weh, ich hatte den Durchhänger, und er geht locker damit um. Wie kann das sein?“ Vielleicht kann es auf Dauer nicht sein, vielleicht kommt der Einbruch noch bei Mario Krichbaum. Irgendwann viel später. Vielleicht auch gar nicht. Seinen Drang, Leuten zu helfen, kann auch ein verbundener Kopf mit einer verheilenden Schusswunde nicht bremsen. Beim Einkaufen hört er eine Kassiererin um Hilfe schreien, sieht zwei Typen, die mit einem Einkaufswagen voll Kaffee flitzen wollen, den Filialleiter, der einen von ihnen zu fassen, aber nicht unter Kontrolle kriegt, und geht dazwischen. Drückt der Kassiererin sein Töchterchen in die Hand und hilft dem verprügelten Filialleiter, den Dieb festzusetzen. Katharina kommentiert das knapp: „Papa, mit dir kann man nirgends hingehen!“

In ein paar Monaten geht er wieder in den Dienst. Dann kommt das Schwerste: den Lebensrhythmus finden. Kommt er ohne Wut oder Panik an der Stelle vorbei, wo es passierte? Kann er in Situationen gehen, ohne tollkühn auf seinen Schutzengel zu spekulieren oder zu zaudern? Funktionieren die Instinkte? Sind die Kollegen mutig und kritisch und uneitel genug, ihm die Wahrheit zu sagen? Auch die, von der er träumt: „Junge, es ist alles okay, du bist auch im Kopf wieder richtig dabei.“

Wird Katharina keine Angst mehr haben, wenn Papa zum Dienst fährt? Wenn die Mama etwas später aus ihrem Dienst kommt? Der Tatort bleibt am ersten Tag des neuen Jahrs bis vier Uhr gesperrt. Über ein Dutzend Patronenhülsen des Kalibers, mit dem auf Mario Krichbaum geschossen wurde. Der mutmaßliche Täter ist einen Tag später ermittelt und in Haft wegen versuchten Mordes an einem Polizeibeamten. Der Prozess steht aus. „Mit unseren Jugendgruppen hatte das nichts zu tun“, sagt Schwede, „bei denen war in der Nacht still ruht der See.“ Was den Schuss noch unheimlicher macht.

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