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Berlin: Ein Knochenjob

Bricht der Oberschenkel, bleiben zwei Optionen: die gebrochenen Teile zu verschrauben oder das Gelenk zu ersetzen. Das hängt vom Alter der Patienten ab

Mit einem kupferfarbenen Dodge Viper Cabrio fährt Uwe Thönsing am Unfallkrankenhaus Berlin vor. Heute ist sein vorerst letzter Kontrolltermin in der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie. Der seltene amerikanische Sportwagen ist sein ganzer Stolz. Der Malermeister mit schulterlangem, graumeliertem Haar und schwarzer Lederjacke ist ein Autonarr und ein sympathisches Original – rockig und authentisch wie sein Dodge Viper. Aufs Autofahren zu verzichten wäre für den 50-Jährigen die Höchststrafe – und genau die musste Thönsing vor einigen Wochen erleiden.

Die Eisglätte Anfang des Jahres wird ihm zum Verhängnis. Thönsing muss beiseite springen, weil ein Radfahrer auf dem Bürgersteig fährt. Er rutscht weg und knallt auf die harte Eisschicht. Der sonst so sportliche Mann kann sich nicht mehr bewegen, aufstehen ist unmöglich. Sein verletztes Bein ist nach außen verdreht. Nachdem mehrere Passanten achtlos an ihm vorbeilaufen, hält eine junge Frau an, die sofort einen Krankenwagen alarmiert.

Thönsing erinnert sich an unerträgliche Schmerzen und ein Taubheitsgefühl im Bein. Er wird ins Unfallkrankenhaus in Marzahn eingeliefert. Die Diagnose: Oberschenkelhalsbruch, ein Knochenbruch, der unterhalb des Hüftkopfes im Bereich des Schenkelhalses auftritt. Die Ärzte müssen sofort operieren. Oberarzt Michael Metzner muss sich jetzt entscheiden: für ein hüftkopferhaltendes oder ein hüftkopfersetzendes Verfahren. Denn schon sechs Stunden nach dem Bruch steigt die Gefahr, dass der Hüftkopf abstirbt, da er nicht mehr ausreichend durchblutet wird. Dann wird es unmöglich, ihn zu erhalten. „Je nach Alter und Zustand des Verletzten und abhängig von der Bruchstelle wählt der Operateur die optimale Behandlung aus“, sagt Metzner. Er hat schon weit über 200 Oberschenkelhalsbrüche versorgt. „Beim erhaltenden Verfahren befestigen wir den Hüftkopf durch Schrauben oder Platten, beim hüftkopfersetzenden Verfahren wird ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt.“

Derartige Hüftgelenkersatzoperationen erfolgen überwiegend bei älteren Menschen oder bei Osteoporose-Patienten, also Menschen mit Knochenschwund.

Doch Patient Thönsing ist ansonsten kerngesund, seine Knochensubstanz stabil. Oberarzt Metzner entscheidet sich daher für die Verschraubung. Unter Vollnarkose liegt Thönsing im Operationssaal, als Metzner zunächst das Bein des Verletzten wieder in die ursprüngliche Stellung bringt. Anhand von Röntgenbildern überprüft der Operateur die optimale Position des Oberschenkelknochens, öffnet dann mit dem Skalpell die Haut des Patienten, durchtrennt Fett- und Bindegewebsschichten. Behutsam vorbei an den Muskelsträngen führt er Drähte in die Hautöffnung ein und dreht sie mit einem Bohrer in die Hüftgelenksknochen. Diese insgesamt drei sogenannten Zielbohrdrähte dienen dazu, später die zehn Zentimeter langen Titanschrauben bestmöglich platzieren zu können. Der Unfallchirurg prüft auf dem Röntgenmonitor die passende Lage der Zielbohrdrähte, bevor er über diese Drähte die drei Schrauben einfädelt und in den Knochen bohrt. Der Hüftkopf ist wieder am Schenkelhalsknochen fixiert. Metzner vernäht die offene Wunde.

Nach nur 45 Minuten liegt der Patient im Aufwachraum. Für den lebensfrohen Malermeister beginnt jetzt der lange, beschwerliche Genesungsweg. Sechs Tage bleibt Uwe Thönsing im Unfallkrankenhaus, bekommt täglich Physiotherapie. Der größte Verzicht: Sein Auto muss vorerst in der Garage bleiben. Sechs Wochen darf er sein operiertes Bein nicht voll belasten, muss sich mit Gehstützen fortbewegen, noch mal sechs Wochen muss er es schonen. Parallel dazu weiterhin Physiotherapie, um die Oberschenkelmuskulatur zu trainieren. Auch im Beruf muss er es langsam angehen lassen. Thönsing ist seit knapp dreißig Jahren erfolgreicher Malermeister, seit dreieinhalb Jahren lebt der gebürtige Bremer in Berlin.

Bei den anderen Behandlungsmethoden einer Schenkelhalsfraktur mit einem Gelenkersatz ist es deutlich schneller möglich, das Gelenk wieder zu belasten. Man unterscheidet zwischen der Hüftkopfprothese, bei der nur der gebrochene Gelenkkopf ausgetauscht wird, und einer Totalendoprothese (TEP). Dabei wird das komplette Gelenk – also Kopf und Pfanne – ersetzt. „Eine TEP wird häufig bei Patienten eingesetzt, die zusätzlich einen Verschleiß im Hüftgelenk aufweisen, eine sogenannte Arthrose“, sagt Oberarzt Olaf Rose, seit über zehn Jahren Unfallchirurg an der Park-Klinik Weißensee. „Für ältere Patienten mit schlechter Knochenqualität kommen meistens die gelenkersetzenden Varianten in Betracht.“ Denn hier geht es darum, die hochbetagten Patienten schnell wieder auf die Beine zu bekommen. Dauern die Liege- und Schonzeiten zu lange, besteht die Gefahr, dass sie zum Pflegefall werden.

Im gesamten Bundesgebiet liegt die Zahl der Schenkelhalsbrüche bei 65 000. Durchschnittlich 90 Prozent der Patienten erhalten ein künstliches Hüftgelenk, beim Rest wird der gebrochene Knochen verschraubt. „Dafür sollte der Patient über eine gesunde Knochensubstanz verfügen“, sagt Oberarzt Rose. In 24 Jahren hat der Berliner bereits über 700 Oberschenkelhalsbrüche behandelt.

Die häufigste Ursache für eine Schenkelhalsfraktur sind Unfälle, die normalerweise nicht so einen schweren Verlauf haben – Ärzte nennen das Bagatelltrauma. Ein Sturz im Haushalt etwa, wenn die Knochen durch eine Osteoporose schon mürbe sind. In Deutschland leidet etwa ein Viertel der über 50-Jährigen an Knochenschwund und mehr als die Hälfte aller 70-Jährigen – Frauen trifft es wegen ihres Hormonhaushaltes häufiger als Männer.

Aufgrund der alternden Bevölkerung ist diese Tendenz steigend: Je mehr Menschen länger leben, desto mehr alte, poröse Knochen gibt es. Diese Kombination erzeugt eine Schwachstelle, die Knochen brechen leichter, so dass Experten mit einem Anstieg der Schenkelhalsfrakturen rechnen. „Um eine Osteoporose zumindest nicht zu beschleunigen, sollte man früh beginnen, seine Knochen zu stärken“, rät Oberarzt Rose. „Mit Medikamenten zum Beispiel, etwa Calcium, aktiviertem Vitamin D3 und sogenannten Bisphosphonaten – aber vor allem durch ausreichend Bewegung.“

Daneben ist eine gesunde Ernährung wichtig: Vollkornprodukte, viel Milch, frisches Gemüse und Obst stärken die Knochen; Kaffee, Fastfood, Softgetränke, Alkohol und Nikotin sind eher schwächende Faktoren.

Sind jüngere Menschen von solchen Gelenkfrakturen betroffen, dann meistens aufgrund von schweren Sport- oder Autounfällen.

Wie bei Uwe Thönsing. Zwölf Wochen sind seit seinem Unfall vergangen. Oberarzt Michael Metzner vom Unfallkrankenhaus ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis der Verschraubung und der Genesung seines Patienten. Thönsing ist schmerzfrei, humpelt kaum. Nur eine einzelne Gehstütze, die sein verschraubtes Hüftgelenk entlastet, erinnert noch an seine Verletzung. „Mit Extremsport halte ich mich aber besser noch zurück“, scherzt der Malermeister. „Momentan ist erst mal Rehasport angesagt.“

Läuft alles nach Plan, kann Thönsing schon bald wieder kitesurfen, segeln, Fußball spielen und unbeschwert reisen. Im Sommer sollte sein Hüftgelenk stabilisiert sein, die Muskulatur gedehnt und trainiert – der Fünfzigjährige könnte komplett beschwerdefrei sein, pünktlich zur Fußball-Weltmeisterschaft. Der leidenschaftliche Fußballer mit Trainerschein will live in Südafrika dabei sein – „und da kann ich weder Schmerzen noch Beschwerden gebrauchen“. Uwe Thönsing schwingt sich in sein aufpoliertes Cabrio und braust mit wehendem Haar davon.

Sophie Guggenberger

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