zum Hauptinhalt
Auf dem Tanzboden alter Träume. Zu DDR-Zeiten feierten viele Frauen hier die Nächte durch, und manche Männer kamen sogar aus dem Westen herüber. Foto: David Heerde

© David Heerde

Berlin: Ein kurzer Kuss – und Schluss

Das traditionsreiche Ballhaus Berlin in Mitte macht Silvester dicht. Immer weniger wollten per Tischtelefon flirten. Ein letzter Besuch.

Zum vorletzten Mal steht Herbert Gottschlich an diesem Abend hinter der Bar und schaut sich um: Auf der Tanzfläche amüsieren sich Paare, die er seit Jahrzehnten kennt. An den Holztischen sitzen so viele Gäste wie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr, und hier und da klingelt sogar eines der schwarzen Tischtelefone. Ein Geräusch, das er in den vergangenen 30 Jahren immer seltener gehört hat. „Heute lernen sich die Menschen nicht mehr durch eine Aufforderung zum Tanzen kennen“, sagt er und streicht mit ernstem Blick über das schwarze Hemd. „Dafür gibt es ja jetzt Online-Portale.“

Als der 66-jährige Gastronom zu Beginn der achtziger Jahre das Ballhaus Berlin übernahm, klingelten die Tischtelefone regelmäßig. Der beste Zeitpunkt, die schöne Unbekannte an der gegenüberliegenden Seite des Raums um den nächsten Tanz zu bitten, waren damals die Pausen der Live-Band. Wenige Minuten, in denen es für ein Gespräch ruhig genug war. Doch seitdem ein DJ ohne Unterbrechung die Musik abspiele, sei dies kaum noch möglich. Das haben auch die Urberliner Audio und Elisabeth Albrecht miterlebt.

Das Ehepaar kommt seit 15 Jahren ins Ballhaus an der Chausseestraße in Mitte und tanzt gerade zu dem Lied „Hey Baby“ von Bruce Channel. Eine letzte Drehung, ein kurzer Kuss – und Schluss. Während einer Verschnaufpause schwelgen sie gemeinsam in Erinnerungen: Immer leerer sei es im Ballhaus geworden. „Letzte Woche waren nur noch sieben Pärchen auf der Tanzfläche.“ Ein Tischtelefon, das hat der Italiener Audio Albrecht allerdings selbst nie genutzt. Nicht einmal während seiner jugendlichen Sturm- und DrangPhase. Er ging lieber auf direktem Wege zu einer Frau und sprach sie an. „Und wenn ich einen Korb bekommen habe, dann habe ich ihr einen Groschen auf den Tisch gelegt. Das war natürlich vor unserer Zeit“, sagt er zu seiner Frau und lacht laut. Ob er damals schon im Ballhaus gewesen ist? Nein, nein. Damals vergnügte er sich im Café Moskau.

Nun muss er sich wieder etwas Neues suchen. Das Ballhaus Mitte schließt zum Jahresende – und will vielleicht danach in einem neuen Gewand neu anfangen (siehe Kasten). Die alte Zeit aber ist vergangen. Am Samstagabend wurde der vorletzte Tanzabend gegeben.

Martina Röllecker ist als junge Frau jedes Wochenende ins Ballhaus gekommen und hat mit ihren Freundinnen die Nächste durchgefeiert. „Zu DDR-Zeiten war der Andrang riesig. Sogar aus dem Westen kamen die Männer hierher“, erzählt die 57-jährige Erzieherin an der Bar und trinkt einen Schluck Weißwein. „Für uns gab es damals nur wenige Möglichkeiten zum Ausgehen.“ Musikalisch gab es zwar die offizielle Vorgabe, dass 60 Prozent der Lieder aus dem Osten und nur 40 Prozent aus dem Westen stammen dürften, doch streng habe man sich daran nicht gehalten. „Auch wir haben Tina Turner, die Rolling Stones und die Beatles gehört“, erzählt Röllecker. „Und um 22 Uhr kamen dann Artisten auf die Bühne.“

Wenn sich die Berlinerin mit der rötlichen Kurzhaarfrisur und den schwarz geschminkten Augen heute im Ballhaus umschaut, vermisst sie die alte Zeit. Der Stuck an den Wänden, die Wendeltreppe zur Empore, die Sitzbalkone – all das ist in dem 1905 erbauten Lokal geblieben. Und doch ist es so anders. Die Gäste kämen nicht mehr im Anzug, sondern in Jeans und T-Shirt – und statt Blickkontakt untereinander zu suchen, würden viele auf ihr Handy starren. „Ich habe kein Smartphone, kein Facebook und kein Internet. Das ist alles fürchterlich“, sagt sie. Eine Meinung, die sie hier nicht alleine vertritt.

Zwischen Tischdecken und Papierkram sitzt Herbert Gottschlich zu späterer Stunde in seinem Büro. Natürlich sei nicht nur der Wandel der Kommunikation an der Schließung des Ballhauses Schuld. Viele Baustellen, wenig Parkplätze und genervte Anwohner hätten seine Arbeit in den letzten Jahren erschwert. Als er die Öffnungszeiten minimierte und die Umsätze in den vergangenen zwei Jahren um 50 Prozent einbrachen, habe es ihm gereicht. „Irgendwann muss man auch mal loslassen“, sagt er und blättert durch eine Mappe mit Auflagen des Umweltamtes. Lange hat er versucht, seine kleine nostalgische Welt aufrechtzuerhalten. Sogar mit Verbotsschildern an den Wänden, die ein rot durchgestrichenes Handy zeigen.

Nun hat die neue Zeit gewonnen. Silvester wird zum letzten Tanz gebeten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false