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Berlin: Ein Rotwein an Erich Mühsams Grab

Sie haben Steine mitgebracht, Rotwein und kleine, blaukarierte Hocker. Die Steine legen sie nach jüdischer Tradition auf den Grabstein – auch wenn Erich Mühsam zu Lebzeiten nicht viel mit seiner Religion verband.

Von Sandra Dassler

Sie haben Steine mitgebracht, Rotwein und kleine, blaukarierte Hocker. Die Steine legen sie nach jüdischer Tradition auf den Grabstein – auch wenn Erich Mühsam zu Lebzeiten nicht viel mit seiner Religion verband. Am Montag werden die Friedhofspfleger die Steine wieder wegräumen. Wie jedes Jahr.

Wie jedes Jahr sagt einer kurz nach 19 Uhr: „Ist irgendwie gruselig: Um diese Zeit haben sie ihn geholt.“ Ein anderer beginnt die Geschichte der letzten Stunden von Erich Mühsam vorzulesen: Am Abend des 9. Juli 1934 war der Schriftsteller und Aktivist der Münchner Räterepublik zum SS-Kommandanten des Konzentrationslagers Oranienburg bestellt worden. Am nächsten Morgen fanden ihn Mithäftlinge erhängt in der Latrine. Keiner glaubte die Lüge vom Selbstmord. Sie war für die Weltöffentlichkeit gedacht. Ihretwegen konnten die Nazis dem verhassten Anarchisten auch nicht das Begräbnis auf dem Waldfriedhof Dahlem verweigern.

Das Grab wurde nach dem Krieg zur Pilgerstätte seiner Anhänger. Sie kamen immer in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli. „Mitte der 70er Jahre waren das vor allem ehemalige Spanienkämpfer“, erinnert sich Wolfgang Kroeske. Er hat die Tradition fortgesetzt, als die Alten ausblieben.

Isabel Neuenfeldt singt, die Augen geschlossen und das Akkordeon sicher im Griff, Texte von Mühsam, die sie selbst vertont hat. Die junge Frau fühlt sich nicht als Anarchistin. Aber sie mag, wie Mühsam mit seinem eigenen Tod umging: „Und wenn ein Jahr verflossen, dann, die ihr lauft und hinkt, Zechbrüder und Genossen, der Tag sei froh begossen . . .“. Die Mühsam-Freunde nehmen das wörtlich. Zwar sind die Becher nur aus Pappe, aber der Rotwein ist echt und jedes Jahr fließen einige Tropfen auch auf das Grab von Erich und seiner Frau Zensl.

Klaus Hugler trinkt nicht. Der aus der Niederlausitz stammende 48-Jährige, der Mühsam einst als Quelle für den eigenen Widerstand gegen das DDR-Regime entdeckte, hat mit Oranienburger Schülern eine Ausstellung zum diesjährigen 70. Todestag des Dichters gestaltet. „Die mussten ihren Eltern erst erklären, wer Mühsam war“, sagt er nachdenklich. „Das wäre in Berlin nicht anders“, meint Wolfgang Kroeske: „Immerhin verkündet jetzt ein kleiner Stein, dass sich hier ein ,Ehrengrab der Stadt Berlin’ befindet.“

Und immer werden vor dem 9. Juli frische Primeln auf das Grab gepflanzt. Ausgerechnet. Primeln konnte Erich Mühsam gar nicht leiden.

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