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Bornholmer Straße: Ein Stückchen Weltgeschichte

Sie ist Bindeglied zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, eine Stahlbrücke wie viele andere. Und doch kennt jeder sie. Denn die Brücke an der Bornholmer Straße war ein Grenzübergang. 1989 machten tausende Menschen sie berühmt, zum Medienstar für eine Nacht.

Auch 21 Jahre später fährt man über die Bornholmer Brücke zum Ku’damm. Im Berufsverkehr stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange. Die Fahrbahn ist asphaltiert, unten an den Gleisen säumen Zierkirschen den alten Grenzweg. Die Straßenbahn fährt wieder in den Wedding. Nur Fußgänger flanieren kaum noch über die Brücke, nicht von West nach Ost und erst recht nicht von Ost nach West. An der Bornholmer Brücke sind sich die beiden Stadthälften so fremd geblieben, wie es nur geht.

Das war einmal anders. Vor 21 Jahren, an diesem 9. November 1989, der die Bornholmer Brücke berühmt gemacht hat. An diesem vergessenen Stück Niemandsland schleift das Volk die Mauer. Kameras aus der ganzen Welt blenden live auf die geschätzt 20 000 Menschen, die unter riesigen Stahlbögen in den Westen fluteten, auf die Trabis, Stoßstange an Stoßstange auf dem Weg zum Ku’damm. „Look at these funny little cars!“, ruft eine Reporterin in ihr CNN-Mikrofon. Die Bornholmer Brücke wird zum Star für eine Nacht

Ein bisschen von dem Ruhm ist geblieben. Die Bornholmer ist ist ein Star, den die Welt an seinen Geburtstagen feiert, an den runden ein bisschen ausschweifender. Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls sind Angela Merkel und Michael Gorbatschow von Prenzlauer Berg nach Wedding spaziert. Immer am 9. November kommen Anwohner, Zeitzeugen und Politiker zu der asphaltierten Fläche, die mal Grenzübergang war. Sie halten Kerzen in der Hand und erzählen von der Nacht der Nächte dieser Brücke, die eigentlich den Namen des kommunistischen Widerstandskämpfers Wilhelm Böse trägt. Aber „Bösebrücke“ hat schon vor der Wende niemand gesagt. Nicht im Osten, wo die Brücke im Sperrgebiet lag, und erst recht nicht im antikommunistischen Westen, zu dem ohnehin nur 30 Meter des 138 Meter langen Bauwerks gehörten. Ein weißer Pinselstrich markierte die Grenze.

Im Sommer 1977 lenkt Manfred Krug seinen Mercedes über die Bornholmer Brücke. Von Prenzlauer Berg nach Wedding, von Ost nach West, von Berlin nach Berlin. Nach monatelangem Streit um seinen Protest gegen die Ausweisung Wolf Biermanns verlässt der bekannteste Schauspieler der DDR sein Land. Es ist ein Abschied für immer. Hinter der Brücke, zwischen der Telefonzelle und der Baracke der West-Berliner Polizei, wartet der ZDF-Reporter Dirk Sager. Manfred Krug gibt ein erstes Interview. Gezeichnet von den Schikanen der vergangenen Monate und einer feuchten, aber nicht fröhlichen Abschiedsparty. Wie schwer fällt dieser Abschied? Krug verweigert die Antwort, er dreht sich zur Seite, schlägt die Hand vors Gesicht und weint.

Manfred Krug mag heute nicht mehr reden über die Tränen an der Bornholmer Brücke. „Ist alles lange her, ich mag mich nicht mehr erinnern, das Leben geht weiter.“ In der DDR ist es nach diesem 20. Juni 1977 nicht mehr lange weitergegangen. Biermanns Ausbürgerung und der folgende Exodus der Künstler und Intellektuellen trocknet das geistige Klima aus. Die DDR vegetiert noch zwölf Jahre vor sich hin, dann fließen wieder Tränen an der Brücke. Dieses Mal sind es Tränen der Wiedersehensfreude.

Auch Robert Moritz und Sven Daniel sind in jener Nacht zur Bornholmer Brücke gekommen. Der eine Schüler aus dem Osten, der andere Student aus dem Westen. Robert Moritz ist in Pankow aufgewachsen, ganz in der Nähe des Schauspielers Manfred Krug, er kennt ihn aus dem Westfernsehen als Liebling Kreuzberg. In der Bornholmer Straße ist er vor dem 9. November 1989 nie gewesen. „Die Gegend war tot. Keine Geschäfte, keine Restaurants, einfach nichts.“ Das Auffälligste an der Bornholmer Straße sind ihre Dimensionen. Die hohen Bäume, der breite Mittelstreifen, die vier Fahrspuren, auf denen nur Autos fahren. Wohin auch? Am Ost-Berliner Ende der Bornholmer ist auch die Welt zu Ende. Zufällige Besucher staunen über den weißen Anstrich der Wohnhäuser, der das Grenzgebiet hell erleuchtet. So herausgeputzt ist Prenzlauer Berg sonst nur an der Schönhauser Allee, die bei Staatsbesuchen als Protokollstrecke dient.

Auf der anderen Seite der Brücke gibt es keine Protokollstrecke. Wenn sich einmal politische Prominenz in den Wedding verirrt, dann fährt sie zur Bernauer Straße und blickt auf einer Aussichtsplattform staatstragend gen Osten. Immer am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus. Die Bornholmer Straße wird weitgehend ignoriert. Wer hier nicht zu Hause ist oder zum Grenzübergang will, der meidet den östlichen Zipfel von Gesundbrunnen. Sven Daniel ist ein Stück weiter unten im südlichen Wedding groß geworden. Einmal, mit gerade zehn Jahren, da ist er losmarschiert, die Seestraße hoch, weiter über die Osloer in die Bornholmer, bis die Straße am Ende immer weiter anstieg und dieses Monstrum von Brücke auftauchte, mit den Absperrgittern und den Polizisten davor. Sven Daniel läuft mit schlechtem Gewissen nach Hause. Er traut sich nicht, die Eltern zu fragen, was es denn auf sich hat mit diesem unheimlichen Ort.

Heimelig ist es an der Bornholmer Brücke nie gewesen. Wie sollte es auch an diesem riesigen Bahngelände? Kurz hinter der Bornholmer Brücke verzweigen sich die Gleise der Stettiner Bahn und der S-Bahn. Im Westen nach Frohnau und Heiligensee, im Osten nach Buch. Vor bald 100 Jahren hat der Magistrat eine Million Reichsmark investiert in den Bau einer Brücke, sie schloss die Lücke im äußeren Straßenring. Die Bornholmer Straße ist so großzügig angelegt, dass der (West-)Berliner Senat sie noch Mitte der sechziger Jahre zur Autobahn ausbauen will. Grenzübergreifend, mit Anschlussstellen an Malmöer Straße (Ost) und Grüntaler Straße (West). Daraus ist nichts geworden. Die Mauer hatte auch ihre guten Seiten.

Wer zu DDR-Zeiten mit der Straßenbahn nah genug an die Brücke heranfährt bis hin zur Wendeschleife an der Björnsonstraße, der hört die S-Bahn rumpeln auf ihrem Weg von der Schönhauser Allee nach Pankow. Ein Stück weiter hinter der Mauer verkehrt noch eine andere S-Bahn, die zwischen den West-Bahnhöfen Gesundbrunnen und Wollankstraße, aber das wissen in den achtziger Jahren nur noch ältere Ost-Berliner. Die Züge aus dem Westen passieren auch den Bahnhof Bornholmer Straße, der im Niemandsland auf Ost-Berliner Gebiet liegt und deswegen ohne Halt durchfahren wird.

Robert Moritz ist dreizehn, als er mit ein paar Freunden in der S-Bahn nach Pankow sitzt. Unter der Bornholmer Brücke reißt einer das Fenster auf und alle zusammen brüllen sie: „Die Mauer muss weg!“ Sie lachen und fühlen sich wie Staatsfeinde und hoffen, dass der Triebwagenführer nichts gehört hat.

Sven Daniel lernt die Brücke besser kennen, als er in den späten achtziger Jahren öfter mal zum Fußball in den Osten fährt. Mit dem Auto dauert es schon mal eine halbe Stunde vom einen Ende der Brücke bis zum anderen und weiter im Zickzackkurs über die Kontrollanlagen zwischen Bornholmer und Finnländischer Straße, mit längerem Zwischenhalt beim Zwangsumtausch.

Am 9. November 1989 will Sven Daniel früh ins Bett gehen, für den nächsten Tag ist eine Reise mit dem Bruder nach Österreich geplant. Eher zufällig schaltet er kurz vor Mitternacht den Fernseher an. Auf allen Kanälen rollt die Trabi-Lawine. Daniel springt ins Auto und rast den Trabis entgegen. An der Prinzenallee, ein gutes Stück vor der Bornholmer Brücke, lässt die Polizei keinen mehr durch. Sven Daniel improvisiert. „Ich wohne da vorn, Bornholmer 32, was issn heute los?“ Er parkt sein Auto direkt an der Brücke, geht hinüber nach Prenzlauer Berg und dann gleich wieder zurück. „Drüben waren ja alle weg!“

Bis heute ist nicht hinreichend geklärt, warum sich ausgerechnet an der Bornholmer Brücke so viele Ost-Berliner anstellen zum spontanen Besuch im Westen. Ist es die Masse der als besonders regimekritisch bekannten Bürger in den billigen Wohnquartieren von Prenzlauer Berg? Die Lage als nördlichster der sieben innerstädtischen Grenzübergänge, bestens zu erreichen für alle, die zwischen Pankow und Schönhauser Allee wohnen? Oder die zur Anreise bestens geeignete breite Straße? Schon um halb zehn stauen sich die Autos bis zur Schönhauser Allee. Um 23.29 Uhr öffnet der Grenzkommandant Harald Jäger den Schlagbaum mit den Worten: „Wir fluten jetzt.“

Im Osten hat Robert Moritz im Familienkreis Günther Schabowskis folgenschwere Pressekonferenz angeschaut. „Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Keiner kann sich einen Reim darauf machen. Erst als spät am Abend auf Rias-TV die ersten Bilder von der Grenzöffnung laufen, macht sich die Familie auf den Weg. Vater, Mutter, Sohn, Tochter. Sie fassen sich an die Hände und sind dankbar für das Gefühl der Sicherheit, das ihnen die Masse gibt. Auf der anderen Seite der Brücke schaut Robert irritiert auf die Mietskasernen mit den kleinen Vorgärten, den breiten Mittelstreifen, die mit Kopfsteinen gepflasterte Fahrbahn – „sieht ja genauso aus wie bei uns“. Moritz fragt einen Passanten: „Entschuldigung, wo lang geht es hier zum Westen?“ Der Mann lacht und schickt sie weiter zum U-Bahnhof Osloer Straße, „da könnt ihr bis zum Kudamm fahren“.

Sven Daniel ist ein paar Jahre später aus dem Wedding in den Berliner Süden gezogen. Vor ein paar Tagen ist er mal wieder an der Brücke gewesen und hat gestaunt, wie sorglos die Stadt ein Stückchen Weltgeschichte verkommen lässt. Wer Zeit und Geduld und Glück hat, stolpert vielleicht über Gedenkstein oder Infosäule. Ein Hauch von Urin weht durch den S-Bahnhof. Hundehalter und Müllentsorger teilen sich die asphaltierte Fläche, die mal Grenzübergang war. Versorgungsschächte und von Gestrüpp überwucherte Betonstufen lassen erahnen, wo früher Kontrollhäuschen standen.

Auf der gegenüberliegenden Seite, zwischen Brücke und Björnsonstraße, wird Klaus Wowereit heute einen Platz des 9. November eröffnen. Das gibt ein schönes Fest und schöne Fotos in den Zeitungen und lässt sich schön als Symbol verkaufen. Der Platz des 9. November ist eine Verbreiterung des Gehweges neben einem Stück erhaltener Hinterlandmauer. Mit Schautafeln und in den Boden eingelassenen rostigen Stahlbändern, auf denen knapp formulierte Erinnerungen an den 9. November 1989 zu lesen sind. Eigentlich war die Eröffnung schon für den Sommer geplant, aber die Bauarbeiter sind praktischerweise erst in der vergangenen Woche fertig geworden.

Robert Moritz kommt heute viel öfter als früher zur Bornholmer Brücke. Nicht wegen nostalgischer Anwandlungen, sondern weil seine Schwester in der Nähe eine bezahlbare Wohnung gefunden hat, „gar nicht so einfach in Prenzlauer Berg“. An den Häuserecken sieht man noch die Einkerbungen, an denen die Mauersegmente befestigt waren. Die Gegend ist immer noch tot. Keine Geschäfte, keine Restaurants, einfach nichts. In den Nebenstraßen erinnert der Charme grauer Häuserfluchten an die vor der schwäbischen Invasion, als Prenzlauer Berg noch nicht Szenebezirk war.

Auf der westlichen Seite kämpft der Wedding mit seinem Stigma als Hartz-IV-Hochburg. Vor ein paar Jahren wurde die alte Telefonzelle abgerissen. Wie viele Familienzusammenführungen sind hier angebahnt worden in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989? Die Polizeibaracke, an der Dirk Sager 1977 Manfred Krug abpasste, hat einer Straßenbahnhaltestelle Platz gemacht. Krug ist im Westen der Stadt geblieben und hat sein Haus in Pankow verkauft. Den 9. November 1989 erlebte er nicht an der Bornholmer Brücke, sondern in einem Lokal in Charlottenburg, wo er sich spontan mit Stefan Heym versöhnte, aber das ist eine andere Geschichte.

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