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Margit Siebner versteckte sich bei Kriegsende in einem Kellerverschlag.

© Thilo Rückeis

65 Jahre nach Kriegsende: Ein Tag, der nie vergeht

Der 8. Mai 1945 war für Sieger und Befreite ein tiefer Einschnitt im Leben. Zeitzeugen erinnern sich.

In einem Kellerverschlag nahe des Spittelmarkts versteckt sich ein junges Mädchen vor den einziehenden russischen Truppen. Die Halbjüdin hört nicht weit entfernt das Schreien vergewaltigter Frauen, sie hat große Angst. Ob auch die Mutter unter den weinenden Frauen ist? Die 16-Jährige selbst ist es glücklicherweise nicht, und das hat sie vor allem dem Blockwart des Viertels zu verdanken. „Die Judengöre soll verrecken“, hat der immer gesagt und sie nie zusammen mit den anderen in den großen Luftschutzkeller gelassen. Nun harrt sie gefühlte Ewigkeiten in ihrem kleinen Kabuff aus, ohne wissen zu können, dass sie ihre Mutter schon bald gesund wiedertrifft. Ihren jüdischen Vater allerdings, dessen Abtransport nach Buchenwald sie als Neunjährige miterlebt hat, wird Margit Siebner nie wiedersehen. Erst ein Jahr nach Kriegsende erfährt die heute 81-jährige Lichtenraderin, dass er schon 1944 im Exil in Schanghai, wohin er noch entkommen konnte, gestorben ist. Der frühere Buchhändler hat dort mit den Restbeständen, die seine Tochter ihm unentdeckt von den Nazis per Post zusandte, eine fahrende Leihbücherei mit einem kleinen Karren aufgemacht.

Einige Kilometer vom Spittelmarkt entfernt läuft an jenem Tag vor genau 65 Jahren Wolf Rothe über den Kurfürstendamm. Die Rotarmisten haben dem 21-jährigen Schwerkriegsbeschädigten sein Grammofon und die geliebten Schellackplatten genommen, und er ist auf der Suche nach Ersatz. Als er mit einem Plattenstapel aus einem Kino kommt, fährt ein russischer Lautsprecherwagen vorbei. Doch es ertönt nicht etwa eine Siegesparole, sondern der Filmschlager „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder“. Ein skurriler Moment. Einige Stunden danach ist Rothe schon wieder in einem Kino. In den „Eva Lichtspielen“ in der Wilmersdorfer Blissestraße sitzt er mitten unter russischen Soldaten und schaut sich mit ihnen den Film „Lenin im Oktober“ an. „Was für ein schrecklich langweiliger Streifen. Aber ich konnte ja nicht einfach aufstehen und weggehen“, sagt Rothe. „Während andere um diese Uhrzeit mühsam aus ihren Kellern krochen, war ich vielleicht der erste Kinogänger im Nachkriegs-Berlin.“

In Steinstücken, im südlichsten Teil Wannsees, ist der Krieg bereits am 26. April zu Ende, als dort die Panzer der Roten Armee ankommen. In der kleinen Siedlung wohnt Gabriele Leech, die das Glück hat, sich Jahre zuvor für ein Studium der Slawistik entschieden zu haben. Denn so kann die 27-Jährige mit ihren Sprachkenntnissen nicht nur sich und ihrer Familie helfen – sie hat einen 18 Monate alten Sohn –, sondern auch Freunden und Nachbarn. Und da sie viele russischsprachige Bücher besitzt, kommen die jungen Panzerfahrer auch gern in der Freizeit zu ihr. Einer der Jüngsten, der kaum 18-jährige Grischa, bringt ihr am Tag des Kriegsendes eine Flasche Wodka mit. „Lass uns feiern, dass wir noch am Leben sind“, sagt er schlicht. „Dieser Verzicht auf eine Siegerpose und sein Einfühlungsvermögen waren sehr bewegend“, sagt die heute 92-Jährige. Als der Panzertrupp das Dorf verlässt, findet Leech eine halbe Kuh im Vorgarten. „Für das Kind“ haben die russischen Soldaten in das Fell geritzt. Oft hatten sie der Mutter gesagt, sie hätten Angst, Leechs Sohn könne nach dem Krieg verhungern.

Für diese drei Menschen bedeutete der 8. Mai – „bei aller Enttäuschung über die anfänglichen Plünderungs- und Vergewaltigungswellen“, so Siebner – eine Befreiung von den Schrecken der Nazi-Herrschaft und den Grausamkeiten des Krieges. Doch nicht alle haben so empfunden. Viele Deutsche erlebten den Tag als schwere Niederlage und bodenlose nationale Schande. So wie Hans Werk: Schon im Alter von neun Jahren will Hans unbedingt eine HJ-Uniform tragen. Sein Lehrer in der dörflichen Volksschule in der Neumark ist Ortsgruppenleiter der NSDAP, ein überzeugter Nationalsozialist, der seine jungen Schüler mit der NS-Ideologie samt Rassenlehre und „der Schande von Versailles“ indoktriniert. „Wir haben blind alles geglaubt. Auch, dass wir dabei seien, eine bessere Welt aufzubauen. Und so wurde aus mir ein strammer Hitlerjunge und bereits mit 16 ein Anwärter für die Waffen-SS“, erzählt Werk.

Von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands erfährt er beim Rückzug seiner Kompanie von Ungarn nach Österreich. Sie stürzt Werk in eine tiefe Depression und Leere. „Ich hatte nichts mehr. Außer dem Glauben und meiner Wut, dass ‚sie‘ – die Juden und nationale Verräter wie die Hitler-Attentäter – an allem schuld seien“, sagt der heute 82-Jährige. Bis 1951 denkt er so, dann lernt er während seiner Arbeit bei der Frankfurter Straßenbahn einen Gewerkschaftler kennen, der ihn erstmals mit demokratischen Ideen in Berührung bringt. Unter dem Einfluss dieser Vaterfigur ändert sich alles. Werk tritt in die Gewerkschaft ein und 1953 in die SPD. „Seit dieser Zeit habe ich nie aufgehört, mich aus tiefstem Herzen zu schämen“, sagt der Spandauer und fährt mit fester Stimme fort: „Zu entschuldigen ist nichts. Ich kann nur versuchen dazu beizutragen, dass so ein Wahnsinn nie wieder geschieht.“

Deshalb ist Werk seit einigen Jahren Mitglied bei der Berliner Zeitzeugenbörse, der auch Siebner, Rothe und Leech angehören. In Schulen, Vereinen und Universitäten erzählen sie aus ihrer Lebensgeschichte. Ihnen ist anzumerken, dass sie sich viel mit persönlicher Verantwortung, mit ihren Ängsten, ihrer Verzweiflung, Trauer und Wut auseinandergesetzt haben. Für sie alle war das Kriegsende ein tiefer Einschnitt im Leben, aber ihre Erfahrungen beschränken sich längst nicht auf die Tage um den 8. Mai 1945. Sie haben noch viel zu erzählen.

Weitere Informationen im Internet:

www.zeitzeugenboerse.de

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