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Berlin: Eine Frucht, die leuchtet? Glühbirne!

Warum Joel Gibb aus Kanada in Berlin lebt

Der Berliner Filz ärgert ihn. Der Stoff und nicht die Geschichte mit dem Bankenskandal oder dem Tempodrom. Joel Gibb ist ein Fan von Faserstoffen. Er bastelt damit seit Kindertagen. Auch wenn er als Kopf der Kunst-Pop-Band „Hidden Cameras“ – manche sagen, die seien die Erben der Beach Boys – gerade ein bekannter Musiker wird, ist das Arbeiten mit Filz immer noch eine seiner liebsten Beschäftigungen. Er verarbeitet ihn zu Collagen, die an Kirchenbilder erinnern.

In Berlin jedoch, was im vergangenen Jahr für den Kanadier zur zweiten Heimat wurde, ist der Stoff nicht so gut wie im heimischen Toronto. „Nicht mal im KaDeWe ist die Auswahl groß genug“, sagt er, rollt die großen Augen im schmalen Gesicht und seufzt ein wenig zu theatralisch, um das wie ein wirklich großes Problem aussehen zu lassen. Denn eigentlich fühle er sich in Berlin sehr wohl, sagt der 29-Jährige. „Diese Stadt strahlt das Gefühl aus: Alles ist möglich“, sagt er und schwärmt davon, wie „spielerisch“ sich Berlin im Vergleich zu Toronto anfühle. Die Anziehungskraft erklärt er unter anderem mit der „herrlichen Do-it-yourself-Ästhetik“, die die Stadt ausstrahlt. Vielleicht ist das der Grund, wieso es so viele seiner Landsleute hierherzieht, von Gibbs Musikerfreundin Peaches über die inzwischen nach Frankreich weitergezogene Leslie Feist bis zu den Elektropop-Tüftlern Mocky und Gonzales. Seine alte Heimatstadt sei zwar genauso groß, aber irgendwie nicht so offen für kreative Typen, findet Gibb.

Beim Erzählen wirkt er müde, die Band macht gerade eine Tournee durch Europa und Nordamerika. Für die übrigen fünf Bandmitglieder, die weiterhin in Toronto leben, ist Berlin, wo sie kürzlich auftraten, nur eine von Dutzenden Stationen. Für ihren Sänger und Songschreiber war es ein Heimspiel, bei dem er nur bedauerte, dass er gleich nach dem Mitternachtskonzert in der Volksbühne zum nächsten Auftrittsort weiterreisen musste. „Das hier ist einer meiner Lieblingsorte“, sagt er über die Volksbühne, die er als Treffpunkt ausgewählt hat, etliche Abende hat er hier verbracht, seitdem er im vergangenen Winter nach Berlin gezogen ist. Gibb erzählt vom Nachtleben, vor allem von seinen Lieblingsbars „Stiller Don“ in Prenzlauer Berg und „Möbel-Olfe“ am Kottbusser Tor, wo die Expatriates zusammenkommen, die Exilanten aller Länder. Einen großen Teil seiner Berliner Freizeit verbringe er aber mit Basteln und Videosgucken in seiner Wohnung. „Wenn ich nicht auf der Bühne oder im Studio stehe, ist laute Musik das Letzte, was ich will.“

Künstlerisch inspirieren ihn vor allem die Flohmärkte. Am Mauerpark deckt er sich mit alten Büchern und Bildern ein, aus denen er Collagen bastelt. Eine davon schmückt das Cover der aktuellen Single „Death of a Tune“. Und in seinem Kopf formt sich gerade ein Song mit deutschen Worten – Nebeneffekt seines Sprachkurses. Sein Lieblingswort bisher: Glühbirne, „eine Frucht, die leuchtet“, das freut den Poeten, der in seinen Liedern immer wieder Phantasiebegriffe benutzt. Sollte sein Deutsch mal für einen ganzen Song reichen, hätte er schon den Titel, angelehnt an den englischen Kindersprechweckruf „Wakey, Wakey“. Auf Deutsch hieße das dann: „Aufi, Aufi, Wache!“, radebrecht Joel Gibb, und über sein Gesicht huscht ein seltenes Lachen.

Dutzende Songs hat der Musiker in seinem Berliner Jahr geschrieben, 20 davon hat er kürzlich in Toronto aufgenommen. Auch in den neuen Liedern geht es um sein Lieblingsthema, den Tod. „Wovon sollen sie auch sonst handeln?“, fragt Gibb. „Das, was das Leben so wertvoll macht, ist doch das drohende Ende am Schluss.“

Die aktuelle CD „Awoo“ der Hidden Cameras ist bei Rough Trade erschienen.

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