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Berlin: Eine Oase im Problem-Kiez

Kreuzberg. Drei Mädchen stehen auf der Bühne und proben für die Schulrevue.

Kreuzberg. Drei Mädchen stehen auf der Bühne und proben für die Schulrevue. „Starke Mädchen haben nicht nur schöne Augen, starke Mädchen haben Phantasie und Mut“, singen die etwa zehnjährigen Schülerinnen der Heinrich-Zille-Grundschule, recken am Ende die Fäuste in die Luft. Zwei von ihnen tragen T-Shirts mit dem Aufdruck „Zicke“. Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir und sein Berliner Parteifreund Özcan Mutlu stehen staunend davor, applaudieren. „Klasse!“, lobt Özdemir.

Die Theatergruppe ist eines der zahlreichen Vorzeigeprojekte der Zille-Grundschule. Sie liegt mitten im Problemkiez um die Wrangelstraße, gilt aber bei Kindern, Eltern und Lehrern als Oase. „Auf diesem Grundstück vergesse ich, wo ich hier eigentlich bin“, sagt Schulleiterin Inge Hirschmann. Ihre Schule kann sich vor Anmeldungen deutscher und auch türkischer Eltern kaum retten. Viele suchen sich rechtzeitig vor der Einschulung ihrer Kinder in der unmittelbaren Nachbarschaft eine Wohnung, um eine Chance zu bekommen. Die Folge: An der Zille-Schule stammt nur die Hälfte der Kinder aus nichtdeutschen Familien, anderswo sind es 80 Prozent und mehr. Auch deshalb ist die Grundschule ein Vorzeigeprojekt; eines von acht, die Özcan Mutlu in diesem Jahr gemeinsam mit Bundespolitikern besucht, um Auswege aus dem Pisa-Elend zu zeigen. Nachdem jetzt die verheerenden Ergebnisse der Sprachstandserhebung bekannt wurden – zwei Drittel der nichtdeutschen Schulanfänger brauchen Deutsch-Förderung – sind positive Ansätze noch gefragter.

An der Zille-Grundschule, scheint es, lernen die Kinder, sich auszudrücken. Normalerweise würde Cem Özdemir nach der Theaterprobe fragen, wie die kleinen Schauspielerinnen heißen, wie alt sie sind und woher ihre Eltern kommen. Aber die Drei geben ihm keine Chance. Sie haben selber eine Frage. Kann der Politiker einer bosnischen Klassenkameradin helfen, die in den nächsten Tagen gemeinsam mit ihren Eltern abgeschoben wird? Die Mädchen schildern knapp das Schicksal des Flüchtlingskindes – „Vater im Krieg erschossen, Haus zerstört“ – und fordern dann: „Sie soll hierbleiben.“ Selber helfen kann Özdemir nicht. Er schlägt den Kindern vor, ihren bewegenden Bericht schnell an den Innensenator zu schreiben.

Nur im zusätzlichen Unterricht „Deutsch als Zweitsprache“ lernten die Kinder nicht, so zu kommunizieren, sagt die Schulleiterin. Auch die Mischung auf dem Schulhof, unter Spielkameraden und die familiäre Situation müssten stimmen, damit die türkischstämmigen Kinder gut Deutsch sprechen. Aber die Zille-Schule versucht doch, Defizite auszugleichen – auch die der deutschen Familien. Jeder Schultag beginnt mit einer „sozialen Viertelstunde“: Kinder und Lehrer setzen sich in einen Stuhlkreis und erzählen, wie der vorherige Tag nach der Schule verlaufen ist. „Da höre ich manchmal Geschichten“, sagt Inge Hirschmann, „die ich sonst nur aus dem Fernsehen kenne.“ So einfach ist es heute ohnehin nicht mehr mit der Herkunft. Der neunjährige Hüseyin sagt: „Meine Familie kommt aus der Türkei, außer mein Bruder und ich.“ Amory Burchard

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