zum Hauptinhalt

Berlin: Eine Reise in schrecklicher Gewissheit

Am Tag nach der Katastrophe flogen die Angehörigen nach Luxemburg, um Abschied zu nehmen und die Opfer zu identifizieren

Berlin-Tempelhof. Die Nummer auf der Abflugtafel in der Haupthalle ist dieselbe wie am Mittwoch: LG 9642 von Tempelhof nach Luxemburg um 8.40 Uhr. Die aufgehende Sonne glüht genauso rot wie am Mittwoch. Die Fokker 50 der Luxair vor der Schalterhalle sieht genauso aus wie die vom Mittwoch. Aber es ist Donnerstag, der Tag danach.

Um kurz nach acht überblättert die Anzeigetafel Flug LG 9642. Die ihn gebucht haben, müssen ausnahmsweise über Saarbrücken nach Luxemburg fliegen. LG 9642 ist für die Angehörigen der Absturzopfer vom Vortag reserviert. Sie gehen zunächst an denselben Schalter wie die regulären Passagiere, aber die wartenden Luxair-Mitarbeiter und Seelsorger erkennen sie auch so. Eine Frau an ihren eingefrorenen Gesichtszügen. Ein Paar daran, wie fest er seinen Arm um ihre Schultern gelegt hat. Ein anderes Paar, weil sich beide von den wartenden Kameraleuten abwenden. Ein Seelsorger begleitet sie. Ihr Weg führt am Zeitungsstand mit den Bildern der zertrümmerten Maschine vorbei zum „General Aviation Terminal“. Von dort starten sonst Privatflieger und Promis; für die Öffentlichkeit ist dieser Bereich tabu. Auch für die Kameraleute, die längst nicht mehr wissen, was sie noch filmen sollen in der monumentalen, menschenleeren Haupthalle. Die Luxair-Mitarbeiter sagen möglichst freundlich, dass sie nichts über die Absturzursache wissen und entschuldigen sich, dass sie trotz Krisenplanes etwas durcheinander seien.

Zehn Hinterbliebene sollen es sein, die sich bis zur Abflugzeit eingefunden haben. Zwei waren schon am Mittwochabend mit einer Sondermaschine nach Luxemburg geflogen, andere haben sich auf eigene Faust auf den Weg gemacht. Kurz vor dem Start treten Luxair-Verwaltungsdirektor Alain Georges und Finanzdirektor Jean-Pierre Walesch durch die Glastür des Terminals vor die Kameras. Beide sind nach Berlin gereist, um die Betroffenen zu begleiten und ihren eigenen Mitarbeitern Mut zuzusprechen, die am Morgen zuvor in Tempelhof noch mit der Besatzung geplaudert hatten. „Gestern war der Tag der Katastrophe, heute ist der Tag des Leides“, sagt Georges mit leiser Stimme, kondoliert den Angehörigen und dankt den deutschen Kollegen: „Die Solidarität in dieser schrecklichen Zeit hat voll funktioniert.“ Dann steigen die Luxair-Chefs ins Flugzeug. Mit dröhnenden Propellern rollt die Fokker durch die Morgensonne zur Startbahn. Genau wie am Mittwoch.

Luxemburg. „Kameras aus!“, heißt es, als die drei Reisebusse mit den Hinterbliebenen der 20 Opfer des Flugzeugabsturzes am Donnerstagnachmittag an der Unglücksstelle auf einem Feld nahe dem Luxemburger Flughafen Findel halten. Ein kalter Wind fegt über die Felder, es regnet, doch der Nebel des Vortages ist verschwunden, als etwa 50 Menschen, Angehörige mit Begleitern und Offiziellen, zu der Unglücksstelle geleitet werden, wo noch immer die Wrackteile in den Himmel ragen und Ermittlungsbeamte damit beschäftigt sind, Teile des Flugzeugrumpfes zu untersuchen. Die Medienvertreter werden von der Polizei auf Abstand gehalten. Von weitem ist zu sehen, wie die Angehörigen ein großes Blumengebinde am Wrack niederlegen.

Vor der Fahrt zur Absturzstelle gab es ein Treffen mit deutschen und luxemburgischen Regierungsvertretern. Psychologen, die die luxemburgische Regierung stellt und Beamte des Auswärtigen Amtes aus Berlin sind dabei, als die Angehörigen gegen 12 Uhr nach Betzdorf gefahren werden, zu einer Messe im engsten Familienkreis in der Dorfkirche. Danach werden sie in kleinen Gruppen in Kleinbussen zur Chapelle Ardente, einer höher gelegenen Kapelle des Ortes gefahren, wo die Opfer aufgebahrt sind. Ein Polizeisprecher bittet die Kameraleute, nicht zu filmen. Angeblich sind einige der Leichen noch nicht identifiziert und müssen deshalb noch von Angehörigen begutachtet werden.

Die Körper von 16 der 20 Opfer des Flugzeugabsturzes sind bereits am Abend des Unglücks in der weiß getünchten, schindelgedeckten Kapelle von Roodt-sur-Syre, einem Stadtteil von Betzdorf, aufgebahrt worden. Dort haben der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker, Großherzogin Maria-Teresa und der deutsche Verkehrsminister Manfred Stolpe ihrer gedacht. Der Zugang zu dem Kirchlein war für Außenstehende abgesperrt worden. Vor dem Altar lag ein riesiges Blumengebinde mit Schleife in den Luxemburger Nationalfarben. Zum Gedenken an die Unfallopfer ließ eine Nachbarkirche eine Viertelstunde lang die Glocken läuten. Beim Verlassen der Kirche sagten Juncker und die Großherzogin kein Wort. Stolpe sprach von einer „großen Katastrophe“ und lobte die Rettungskräfte für ihren tatkräftigen und schnellen Einsatz. Am späteren Nachmittag wurde Stolpe zu einer offiziellen Trauermesse in der Dorfkirche von Roodtsur-Syre erwartet. Klaus Bachmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false