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Berlin: „Eines Tages brennt der Kiez“

Die Probleme an der Rütli-Schule sind nicht neu: Wir dokumentieren einen Besuch im November 2003

Arbeitslehre ist angesagt. Ein Schlüsselbrett soll entstehen. Also Schablone aufs Holz, mit Laubsäge ausschneiden, Kanten feilen, Muster einbrennen, Haken reinschrauben. Einfache Arbeitsgänge eigentlich: Mit nur sechs Schülern in der Gruppe dürfte das nicht so schwierig sein. Doch die Stunde hat es in sich.

„Wie musst Du feilen?“, will Schulleiterin Brigitte Pick von einem 13-jährigen Schüler wissen. „Nur auf eine Richtung“. „In eine Richtung“. „Und dann den Kabel ...“. „Das Kabel.“ Immer wieder korrigiert Brigitte Pick die Schüler. Das muss sein, denn in ihrer Schule, der Neuköllner Rütli-Schule, sind acht von zehn Kindern nichtdeutscher Herkunft. Sie wurden zwar fast alle in Berlin geboren, aber weder in der Kita noch in der Grundschule ist es gelungen, ihnen Deutsch beizubringen. Jetzt, in der Pubertät, ist es eigentlich zu spät. Dazu kommen noch Kinder von Flüchtlingen oder Spätaussiedlern, die gar kein Deutsch können.

Also muss man das üben. Auch Lehrerin Hilde Holtmann versucht das in ihrer Stunde. Sie wirft ihren Zehntklässlern einen Ball zu, wer ihn fängt, soll erzählen, wie es ihm während des dreiwöchigen Betriebspraktikums ergangen ist. „Ich war immer nur drei statt sechs Stunden pro Tag“, lautet eine Antwort. Ein Mädchen sagt, dass es einen Ausbildungsplatz in Aussicht hat. Die Schüler sprechen in kurzen Sätzen voller Fehler. Es ist mühsam.

Dann wird das Thema gewechselt. Hilde Holtmann hat in einer Frauenzeitschrift den Bericht einer jungen Hamburger Türkin gefunden, die sich aus der elterlichen Bevormundung befreit. Der Bericht trifft den Nerv der Mädchen, die fast alle aus türkischen oder arabischen Familien kommen. „Ich darf auch fast nie ins Kino“. „Ich muss immer um acht Uhr zu Hause sein“, werfen sie ihre eigenen Erfahrungen ein. Amüsiert malen sie sich aus, was zu Hause los wäre, wenn sie einen Freund mitbrächten. „Wenn mein Vater nichts machen würde, dann aber mein Bruder“, sagt eine Araberin. Die beiden einzigen deutschen Schülerinnen der Klasse, die hinten zusammensitzen, haben zu dem Thema wenig beizutragen.

„Ein Drittel Ausländer pro Klasse wäre gut“, sagt Schulleiterin Pick. Dann hätte man Chancen, den Kindern Deutsch beizubringen, weil es genug Sprachvorbilder gäbe. Jetzt sieht sie, dass in ihrem Kiez fast keine Deutschen mehr sind.

Nicht nur wirtschaftlich geht es immer weiter bergab im Kiez. „Auch die Familienzusammenhänge werden schlechter“, beobachtet Hilde Holtmann, die sich als Diplompädagogin zusätzlich in der Schulstation engagiert. Aus vielen Gesprächen weiß sie, dass selbst in den ausländischen Familien die Scheidungsrate wächst. Meist blieben die Mütter mit den Kindern zurück, würden aber von ihren Söhnen nicht als Autorität anerkannt. „Da entstehen Lücken“, sieht Holtmann.

Der Schulalltag lässt sich nur schwer bewältigen. Manchmal wird Brigitte Pick von Kollegen um Hilfe gerufen. Dann muss sie schnell in eine Klasse laufen, weil die Schüler aus dem Ruder laufen. Nicht alle Lehrer kommen damit zurecht. Eine Lehrerin, die nicht genannt werden will, sagt, dass sie sich manchmal bedroht fühle. Wie viele andere Kollegen auch wurde sie von einer anderen Schule versetzt, die zu viele Lehrer hatte. Mit der Perspektivlosigkeit, die hier herrscht, kann sie nicht umgehen. „Es ist frustrierend, zu sehen, dass ganze Generationen keine Lehrstellen mehr finden“, sagt Brigitte Pick, die seit 33 Jahren an der Rütli-Hauptschule arbeitet. Sie rechnet damit, „dass der Kiez eines Tages brennen wird“.

Brigitte Pick ist seit Schuljahresbeginn im vorzeitigen Ruhestand.

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