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Dolmetscher zwischen den Kulturen. Kazim Erdogan wurde mehrfach ausgezeichnet. An seinem Arbeitsplatz in Neukölln wehen beide Landesfähnchen. 

© Kitty Kleist-Heinrich

Einwanderer in Deutschland: "Wir dürfen die Eltern nicht verteufeln"

Der Neuköllner Psychologe Kazim Erdogan über die Probleme der türkischen Einwanderer in Berlin, erbärmliche Wohnungen in den 70ern, Jobverlust bei der BVG – und Lob für einen Kuchen.

Von Sandra Dassler

Herr Erdogan, Sie betreuen in Neukölln auch eine „Vätergruppe“ mit türkischen Gastarbeitern der ersten Generation. Gibt es darunter Männer, die bereut haben, nach Berlin gekommen zu sein?

Ja, es gibt Männer, die das bereuen. Sie haben aufgrund ihres geringen Verdienstes nur kleine Renten und fühlen sich hier immer noch fremd. Aber in der Türkei geht ihnen das genauso. Die meisten ehemaligen Gastarbeiter sind jedoch mit ihrer Entscheidung von damals zufrieden. Besonders, wenn ihre Kinder und Enkel hier gut Fuß gefasst haben.

Sie kamen 1974 nach Berlin. Warum?

Weil ein Onkel von mir hier lebte und weil mir ein Schulfreund ständig von seinem Vater vorschwärmte, der gleich nach dem Anwerbeabkommen nach Deutschland ging. Nach dessen Erzählungen war hier das Paradies.

Dachten viele so in der Türkei?

Ja. Nur anfangs, als es noch keine Erfahrungsberichte gab, wurde vor Nazis und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gewarnt. Aber die Ängste, dass man etwa als Türke nicht allein auf die Straße gehen könne, bestätigten sich nicht.

Die türkischen Gastarbeiter lebten in den ersten Jahren nahezu menschenunwürdig.

In den Arbeiterwohnheimen teilten sich vier Leute ein sechs bis acht Quadratmeter kleines Zimmer: mit zwei Doppelbetten, einem Tisch, einer Kochnische. Sie arbeiteten in Schichten, störten sich also gegenseitig beim Schlafen und hatten oft nicht einmal an ihren Arbeitsplätzen Kontakt zu Deutschen. Die Arbeit wurde schlecht, aber immer noch viel besser bezahlt als in der Türkei. Und weil alle dachten, dass sie nach drei, vier Jahren genug Geld verdient hätten, um sich in der Heimat eine Existenz aufzubauen: einen Lieferwagen zu kaufen, ein Boot oder eine Bäckerei. Oder ein Häuschen.

Warum kam alles ganz anders?

Erstens ging viel Geld für die Miete weg. Zweitens hielten die meisten die lange Trennung nicht aus – vor allem die Frauen, die beispielsweise als Textilarbeiterinnen oder Haushaltshilfen angeworben worden waren. Sie erzählen heute noch, dass sie jede Nacht weinten, weil sie Sehnsucht nach ihren Kindern hatten. Also suchten sie zuerst eine Arbeit für ihre daheimgebliebenen Männer und holten dann die Kinder nach. Nun brauchten sie natürlich eigene Wohnungen und schon reichte das Geld wieder nicht für einen Neustart zu Hause.

Und die Wohnungen waren gerade in Berlin teilweise abenteuerlich.

Weil es wegen der Insellage West-Berlins nur wenig Wohnraum gab. Die Türken bezahlten für Löcher mit Außenklo und teilweise ohne Wasser trotzdem viel Geld.

Als Sie selbst 1974 kamen, hielten sich schon viele Türken illegal in Berlin auf.

Ich auch, die ersten sechs Monate. Ich wollte studieren, habe aber keine Zulassung bekommen. Dann wurde ich bei einer Routinekontrolle entdeckt. Drei Tage vor dem Abschiebetermin kam die Zusage der Freien Universität.

Sie haben sofort Deutsch gelernt. Warum taten das viele Ihrer Landsleute nicht?

Viele waren ungebildet, fast Analphabeten, kamen aus ländlichen Gegenden. Und Sprachkurse wurden ihnen nicht angeboten, sie sollten ja wieder gehen.

Aber die zweite Generation?

Die hat es ja zum Teil besser gemacht, obwohl sie dann ihre Arbeitsplätze massenweise durch Mauerfall und Globalisierung verlor. Allein bei der BVG gingen fast 40 000 Jobs verloren.

Taten sich die Berliner Türken deshalb so schwer mit der deutschen Einheit?

Ja, und weil eigentlich damals schon eine aktive Einwanderungs- und Integrationspolitik notwendig gewesen wäre. Aber plötzlich waren die Deutschen fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Und natürlich hatten Ostdeutsche meist bessere Chancen als Türken.

Aber hat sich nicht gerade in den vergangenen zehn Jahren die Einstellung zur Einwanderung und zur Notwendigkeit von Integration stark gewandelt?

Ja, zum Glück. Doch es gibt noch viele Menschen, die wir abholen müssen, nicht nur Türken. Vor allem die Kinder brauchen Bildung. Wir dürfen aber Eltern, die ihnen das nicht geben können, nicht verteufeln, sondern müssen helfen. Manchmal reicht schon ein anerkennendes Wort, um eine Brücke zu schlagen. Ich erinnere mich an eine Mutter, die für ein Fest an der Grundschule einen Kuchen gebacken hatte, der allen so gut schmeckte, dass man sie ununterbrochen lobte. Die Frau ging mit einem neuen Selbstvertrauen nach Hause – und künftig viel problemloser auf die Schule zu.

Sind die Probleme nicht riesig?

Ja, das sind sie. Unwissenheit ist wieder ein Thema, Gewalt ist wieder ein Thema, Armut ist wieder ein Thema in dieser Stadt. Aber ich glaube, dass das weniger ein ethnisches als ein soziales Problem ist. Auch der deutsche Hartz-IV-Empfänger partizipiert oft nicht am gesellschaftlichen Leben. Aber da bringen uns auch tausend Talkshows nicht weiter. Wichtiger sind Projekte, um Menschen miteinander reden, einander verstehen und einander helfen zu lassen. Oder mit Kästners Worten: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Das Gespräch führte Sandra Dassler.

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