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André S. kommt mit seinem Verteidiger ins Gericht.

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Urteilsverkündung im Rocker-Prozess: Ende einer Ära

Im vergangenen Jahr drohte der Rockerkrieg zwischen Bandidos und Hells Angels in Berlin zu eskalieren. Jetzt erwartet ein Ex-Boss sein Urteil - er soll einen Killer auf seine Nachfolger angesetzt haben. Mit dem Prozess könnte auch eine Ära zu Ende gehen.

Als der Richter den Saal betritt, erhebt Hocko sich. Und um ihn herum scheint alles zu schrumpfen. Sein Schädel ist kahl, das dunkle Jackett spannt über der Brust. Ein Hüne, gelernter Zimmermann, etwa 100 Kilo schwer. Einst war Hocko der mächtigste Rocker der Hauptstadt. Als Präsident der Ost-Berliner Hells Angels, die den exklusiven Namen "Nomads" tragen, war er sogar den Rockerbossen in den USA bekannt. Hocko habe immer Oberwasser gehabt, sagt ein Bekannter, selbst bei lauen Grillabenden sprach er im Kommandoton.

In diesen Wochen steht Hocko in einer Box aus Panzerglas im Saal 700 des Berliner Landgerichts. Er lässt den Blick schweifen und bemüht sich, nicht wie ein Verlierer auszusehen. Holger B., 52 Jahre, Hocko genannt, soll im Sommer 2012 einen Mord in Auftrag gegeben haben – an seinem einstigen Freund und späteren Nachfolger in der Angels-Hierarchie. André S., 48 Jahre, Gastronom, Ex-Hooligan, überlebte schwer verletzt. Am Montag werden die Plädoyers gehalten. Womöglich fällt auch das Urteil. Mit dem Urteil geht nicht nur der Prozess zu Ende.

Vielmehr neigt sich wohl auch eine Ära ihrem Ende. In der wurde Schutzgeld eingetrieben, Waffen verschoben und Rivalen im Rotlichtmilieu bedroht – von Männern, die eine Berufsausbildung und Kinder haben, die Fußball gucken, Bier trinken und sich traditionellen Gesetzen einer Bruderschaft verpflichtet fühlen. Der Anschlag auf S. gilt als Höhepunkt des "Rockerkriegs", der zwischen Hells Angels und ihren Konkurrenten, den Bandidos, tobt. Anhänger beider einst in den USA gegründeten Rockerbanden schießen in Berlin, Duisburg, Cottbus aufeinander, verwüsten sich gegenseitig die Kneipen, Bordelle und Klubhäuser, rasen in Lederkutten in Konvois durch die Städte, markieren ihre Reviere.

Hells-Angels-Boss sagt: "Krieg ist nun wirklich was anderes!"

Aber sechs Monate bevor er niedergeschossen wird, sagt André S. in einer Kneipe: "Rockerkrieg ist Quatsch. Krieg ist nun wirklich was anderes!" Deutschland ist mit bis zu 8000 militanten Rockern nach den USA die Hochburg der international vernetzten Szene. Und Berlin ist die deutsche Rockerhauptstadt. Innensenator Frank Henkel will im Mai 2012 – kurz vor den Schüssen auf S. – drei Ableger verbieten, die Nomads lösen sich auf. Wenig später stürmt die GSG 9 ein Anwesen der Bandidos, mobile Einsatzkommandos errichten Straßensperren, sobald die Hells Angels auf ihren Motorrädern losrollen. Der Staat geht in die Offensive, der Druck auf die Rockerfürsten steigt. Immer dabei: die Fernsehkameras, Rocker stehen wie nie zuvor im Mittelpunkt.

Nicht so Hocko. In jenen Tagen sitzt er in Altlandsberg, ein Dorf vor den Toren der Hauptstadt, und sinnt auf Rache. Für ihn sind die Hells Angels alles. Alles gewesen. Er blickt auf eine glanzvolle Karriere unter Brüdern zurück. Nach Berlin zieht er kurz vor der Wende aus einem Dorf in Schleswig-Holstein, er begeistert sich für Motorräder und Kampfhunde. Mit dem Segen der Angels-Bosse in Nordamerika darf er 2000 neben den alteingesessenen Charlottenburger Hells Angels ein eigenes Charter, also eine Dependance, leiten. Diese Truppe, die Nomads, gibt es den Angels-Regeln zufolge nur ein Mal in jedem Land. Sie pflegt das Image von Rocker-Nomaden ohne festes Vereinsheim. Es ist eine besondere Ehre, ihr anzugehören.

Spürhunde, Polizisten in schusssicheren Westen, Metalldetektor

Als Präsident hält Hocko seine Gefährten an der kurzen Leine. Doch seine Autorität scheint ihm zu Kopf zu steigen. So soll er bei seinen Klubbrüdern geliehenes Geld nicht zurückgezahlt haben. Da rumort es bei den Nomads, André S. hält Rücksprache mit anderen Angels-Bossen. Die mächtigen Hells Angels aus Nordamerika reisen an und holen 2008 die Lederweste mit den Klub-Insignien aus Hockos Wohnung. André S. wird neuer Präsident. Hocko ist abgesetzt, "Out in bad standing" wird das genannt, eine unehrenhafte Entlassung, mit bösen Folgen. Im Mai 2011 wird Hocko vor seinem Haus niedergestochen, von ehemaligen Brüdern, wie er später sagt. Er kommt auf die Intensivstation. Da ist er noch Opfer und sinnt auf Rache.

Als der Prozess gegen ihn zwei Jahre später beginnt, stehen Einsatzfahrzeuge vor dem Gericht in Moabit, Spürhunde schnüffeln an Mülleimern. Durch das Haus stiefeln Polizisten in schusssicheren Westen. Vor dem Verhandlungssaal wird ein Metalldetektor eingesetzt. Im Saal sitzen nur vier Zuschauer. Die Mundwinkel des riesigen Mannes zieht es ins Mürrische, als der Staatsanwalt die Anklage verliest. Hocko reibt sich den Stoppelbart. Wer wie er zu einem Mord angestiftet haben soll, auch wenn der unvollendet bleibt, muss damit rechnen, wie der Täter bestraft zu werden. Monate in Untersuchungshaft liegen da schon hinter ihm. Viel Zeit, um nachzudenken.

Der Ex-Präsident bricht das Schweigegelübde

Der einst ranghöchste Rocker der Stadt bricht denn auch die eiserne Regel des Milieus: das Schweigegelübde. Er macht eine Aussage. Einige in der Justiz hoffen nun, Hocko könnte weiter gehen und die Angels-Nomenklatur zu Fall bringen. Dutzende Schüsse, Brandanschläge, Waffendeals der vergangenen Jahre sind unaufgeklärt. Vielleicht könnte das, was "Rockerkrieg" genannt wurde, durch einen in Bedrängnis geratenen und tief gekränkten Ex-Präsidenten aufgearbeitet werden.

Was die Bosse sagen, gilt nicht mehr allen als Gesetz, nicht mal mehr als väterlicher Rat.

Als André S. im Prozess als Zeuge auftritt, ist Hocko angespannt. Nach all den Jahren sehen sie sich wieder. Langsam, sehr langsam sackt der bullige Rocker auf den Zeugenstuhl. Jogginghose, die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, dicke Brille auf dem massigen Schädel. Den in der Panzerglasbox würdigt er nicht. Die Richter erklären, er müsse zum Attentat aussagen. S. sagt nichts, wird zu 500 Euro Ordnungsgeld verurteilt und geht mit einem Grinsen.

André S. und Hocko sind in ihren Reihen bald die letzten Traditionalisten. So hatte S. schon vor den Schüssen einen Anschlag überlebt, den andere als Krieg bezeichnen würden. Im Juni 2009 wurden er und seine Begleiter von Bandidos mit Macheten attackiert. Sie stachen S. in den Rücken. Er ließ sich in eine Klinik fahren, während die Klinge noch im Rücken steckte. Der Polizei sagte er auch damals: nichts. Doch die Kräfte dieser Generation sind ausgezehrt, nicht nur in Berlin. Einige humpeln, von den Schlägen der Konkurrenz verletzt, andere sitzen in Haft. Die Altrocker brauchen eifrigen Nachwuchs.

Die jungen Wilden fahren gar nicht mehr Motorrad

So haben sich im Umfeld der Klubs schlagkräftige, aber kaum strategisch denkende Männer, oft noch halbe Jungs, versammelt. Ihre Eltern sind einst als Gastarbeiter nach Berlin gekommen, sie hören Hip-Hop statt Rock, gehen lieber ins Solarium statt ins Fußballstadion, rauchen Wasserpfeife, statt sich ein Bier zu zapfen. Motorradführerscheine haben diese Jungs nur selten. Und bei Männern mit langen Haaren, gar einem Zopf wie Andrè S. ihn trägt, denken sie an Hippies, nicht an Gangster. "Da gibt es eine riesige Fluktuation", sagt ein Kenner, "nicht jeder von den Neuen bringt die nötige Disziplin mit."

So verändern sich auch die Nachrichten aus der Szene. Früher hieß es: Ein Schlosser, Ende 30, prügelte sich mit Gerüstbauer, Anfang 40, beide werden leicht verletzt, beide machen bei der Polizei keine Angaben, Verfahren eingestellt. Inzwischen fallen in die Rubrik der Rocker-Nachrichten solche, nur ein paar Wochen alt: Zwei Jugendliche, 16 und 17 Jahre alt, ein Berliner Türke und ein Deutsch-Pole, haben weitgehend gestanden, einen 59-jährigen Café-Betreiber niedergeprügelt zu haben. Sie werden dafür wohl verurteilt werden.

Was die Bosse sagen, gilt nicht mehr allen als Gesetz, nicht mal mehr als väterlicher Rat. Auch gegenüber den Behörden wird viel mehr geredet. Kurz vor Hockos Prozessauftakt stellt die Justiz in einem anderen Verfahren einem damals 23-jährigen Bandidos-Mitglied einen Strafrabatt in Aussicht, der Nachwuchsrocker hält nicht mehr viel von seiner Bruderschaft und "kippt um", wie es heißt. Er belastet nicht nur sich selbst, sondern frühere Klubbrüder. Er spricht über ein brennendes Auto, Erpressung, Drogendeals, und erhält dafür den Status eines Kronzeugen. Unter besonderem Schutz tritt er eine reduzierte Haftstrafe an, außerhalb Berlins.

Ungelöster Mord an einem abtrünnigen Hells Angels

Auch Hocko, der Altrocker, entscheidet sich für einen Schritt, der alle überrascht, und ihm eine Rückkehr in seine alte Welt unmöglich macht: Er redet mit der Kripo. Nicht nur über das, was man ihm anlastet. Sondern über Taten, die auf das Konto einstiger Brüder gehen sollen. Als Kronzeuge muss er zur Aufklärung schwerer Taten beitragen, dann könnte seine eigene Strafe im Falle einer Verurteilung reduziert werden. Über das, was er der Kripo anvertraut, wird im Prozess wenig bekannt.

Von besonderem Interesse für die Ermittler ist ein ungelöster Mord an einem anderen in Ungnade gefallenen Hells Angel. Michael B., auch so ein tätowierter Hüne, wurde 2009 erschossen, nachdem er mit den Bandidos angebändelt hatte. B. hatte zudem offenbar Kontakt zu Hocko, dem Geschassten. Angeblich nannte Hocko die Namen von Männern, die Michael B. getötet haben könnten. Doch für Haftbefehle reichte es nicht.

20.000 Euro für ein Attentat

Vor Gericht gibt Hocko seinen Racheplan zu: In einer Sauna lernt er den ebenfalls angeklagten Micha W. kennen, der aus Odessa stammt und "Russen-Micha" genannt wird. W., 63 Jahre, heuert laut Anklage wiederum einen jüngeren Ukrainer an. "Ich hatte eine tiefe Bitterkeit, dass frühere Brüder mich wie ein Tier abstachen", stöhnt Hocko im Panzerglaskasten. "Ich habe keine Zweifel, André S. ist dafür verantwortlich." Er habe 20000 Euro dafür bezahlt, dass André S. "das Knie zertrümmert wird". Über Schüsse sei nie gesprochen worden: "Als ich von dem Anschlag erfuhr, war ich wie vor den Kopf gestoßen."

Der jüngere Attentäter legt sich in jener Juninacht 2012 auf die Lauer. Meist ist André S. von Männern umgeben, die so breit sind wie er selbst. An diesem Morgen ist er allein, als er vor seiner Kneipe in Berlin-Wartenberg seine Harley besteigt. Die Schüsse treffen Leber, Wirbelsäule, fast das Herz. Aber André S. ist mehr als 100 Kilo schwer, "seine Geliermasse", wie ein Fahnder es ausdrückt, rettet ihm das Leben. Bei der Suche nach dem Täter ist S. keine Hilfe. Selbst seine Krankenakte, mit Details zu den Projektilen, bekommt die Polizei erst, nachdem ein Richter es erzwingt.

"Die Telefone sind krank"

Verraten haben soll sich Hocko übrigens selbst, als er mit Micha W. am Telefon über das Attentat gesprochen habe. Vor allem Oleg C., der mutmaßliche Profikiller, war am Telefon gänzlich unprofessionell. Er meckerte über den Lohn, den Hocko wohl nur teilweise auszahlte. "Der Typ soll zahlen", verlangte er von Russen-Micha. Der wiederum dachte an seine Ex- und Importgeschäfte, bei denen die Freundschaft zu Hocko vielleicht noch nützlich sein könnte. "Warte, bis Gras über die Sache gewachsen ist", mahnte er Oleg C. – und erklärte dem mutmaßlichen Killer ausdrücklich: "Die Telefone sind krank." Da hörten die Ermittler längst mit.

Im vergangenen Jahr haben in Berlin rechnerisch fast 45 Beamte jeden Tag acht Stunden lang Rocker beobachtet, Motorradtouren begleitet und Telefonate überwacht. Wenn Hocko ihnen den richtigen Hinweis doch noch liefert, werden sie zuschlagen.

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