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Berlin: „Es gibt längst Qualitätsdaten, mit denen man Heime vergleichen kann“

In der Schweiz werden flächendeckend Daten zu Kathetern, Druckgeschwüren und Magensonden erfasst. Daraus lässt sich ablesen, wie gut Heimbewohner versorgt werden, meint der Arzt Markus Anliker.

Herr Anliker, kann man die Qualität in einem Pflegeheim messen?

Das ist auf jeden Fall möglich – und zum Beispiel in der Schweiz seit 1998 auch schon Realität. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es zuverlässige, aussagekräftige und kontinuierlich von Fachleuten erhobene Qualitätsdaten gibt. Solche Daten liefert die Anwendung des international anerkannten Resident Assessment Instruments (RAI).

Was ist RAI?

Dieses System wurde vor gut 15 Jahren in den USA entwickelt und hat in der Langzeitpflege einen Entwicklungsschub ausgelöst, unter anderem weil mit diesem Instrument und dessen Daten die verschieden zusammengesetzten Bewohnergruppen in den Heimen vergleichbar gemacht werden. In der Schweiz wird es darüber hinaus auch als Abrechnungsgrundlage für den Pflegeaufwand gegenüber den Krankenversicherungen verwendet – wegen dieser Verknüpfung mit der Finanzierung hat sich eine hohe Verlässlichkeit der Daten etabliert.

Wie werden diese Indikatoren eingesetzt?

Mit den RAI wird nach festen Kriterien eine systematische Informationssammlung zu Fähigkeiten und Defiziten von pflegebedürftigen Menschen durchgeführt. Unter anderem wird der kognitive Zustand eines Menschen erfasst; ebenso werden emotionale Faktoren beachtet, also etwa, ist ein Heimbewohner motiviert oder ist er resigniert. Aber auch das Ausmaß der körperlichen Hilfe im Alltag wird systematisch dokumentiert. Diese Angaben werden elektronisch in Datenbanken aufbereitet. So liegen zum Beispiel Zahlen zu Druckgeschwüren, zur Sturzproblematik oder zu der Anzahl verwendeter Medikamente vor. Und da die Werte kontinuierlich erhoben werden, kann auch eine Aussage zu Veränderungen im Zeitverlauf gemacht werden.

Kann man mit RAI die Qualität von Pflegeheimen vergleichbar machen?

Ja, sehr gut. Denn die prozentuale Häufigkeit bestimmter Probleme – Druckgeschwüre, Magensonden oder Stürze – sagt viel darüber aus, wie gut in einem Heim gepflegt wird. Ein Beispiel: Sind in einer Pflegeeinrichtung bei acht Prozent der Bewohner Blasenkatheter gelegt, so ist das nach internationalen Erfahrungen im normalen Bereich. Sind es 25 Prozent, ist das wahrscheinlich zu viel und es sollte eine fachliche Überprüfung stattfinden. Ein anderer Indikator ist die Zahl der Bewohner, die über tägliche Schmerzen klagen. Wenn das über 20 Prozent sind, stimmt in der Regel etwas an den professionellen Prozessen nicht. Und die Einrichtung sollte schnell Maßnahmen ergreifen, etwa das Personal darin schulen, Schmerzen zu erkennen und zu wissen, wann man einen Arzt hinzuziehen sollte.

Welche Erfahrungen wurden in der Schweiz mit dem System gesammelt?

Seit 1998 wird das RAI-System in Schweizer Pflegeheimen zur Messung und Verbesserung der Pflegequalität eingesetzt. Mittlerweile tun dies 340 der rund 1500 Heime im Land mit insgesamt über 20 000 Bewohnern. In Fachgremien werden die Normwerte für gute Qualität jährlich neu definiert – auch unter Verwendung der Ergebnisse internationaler Studien. Bei systematischer Anwendung des Systems, wie zum Beispiel im Kanton Solothurn, wird vom Heim eine Stellungnahme verlangt, wenn es die Grenzwerte überschreitet. Dann sollen die mit den RAI-Qualitätsindikatoren identifizierten Problemthemen angegangen werden. Ein Jahr später wird nachgemessen, ob die Anstrengungen auch Erfolg zeigen.

Wird in der Schweiz darüber diskutiert, diese Daten zu veröffentlichen, um auch den Kunden mehr Transparenz zu bieten?

Aus unserer Sicht sind diese Daten zu abhängig von fachlicher Interpretation, so dass sie für Laien ungeeignet sind. Manche Angaben könnten missverstanden werden. So können nur Fachleute die Frage beantworten, ob eine Verbesserung oder Verschlechterung der RAI-Daten tatsächlich eine Qualitätsveränderung zeigt oder aber ob das an einer veränderten Bewohnerstruktur liegt. Wir setzen auf ein System der flächendeckenden Qualitätsverbesserung durch interne Prüfungen von Fachgruppen und konkrete Zielvorgaben für Qualität. Außerdem gibt es im Bereich der Pflegeheime in der Schweiz noch keine große Konsumentenmacht. Oder anders: Es fehlt das Interesse an öffentlichen Qualitätsdaten aus Heimen. Wir sind aber offen für eine differenzierte öffentliche Diskussion.

Markus Anliker ist Facharzt für Geriatrie und Leitender Arzt am Pflegezentrum Baar. Mit dem Projektleiter in Steuerungsgruppen für Schweizer

RAI-Projekte sprach Ingo Bach.

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