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Berlin: Frau ohne Gedächtnis: Die Erinnerung ans eigene Leben - ein Blick zurück ins Nichts

Anna möchte sie genannt werden. Der Name gefällt ihr.

Anna möchte sie genannt werden. Der Name gefällt ihr. Und sie will ihn behalten, obwohl sie Silvana heißt. Das weiß sie inzwischen. Ihre Ärztin hat es ihr gesagt. Doch Silvana hört sich falsch an, findet Anna. Und dass sie jemals so hieß, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Wie an alles in ihrem Leben. Am 17. Juli morgens um 7.45 Uhr stand Anna plötzlich am Bahnhof Zoo. Sie sei aufgewacht, wie aus einer Trance, sagt sie später ihren Ärzten. Sie weiß weder, wer sie ist, noch wo sie herkommt oder was sie am Bahnhof Zoo wollte. Sie geht zur Bahnpolizei: "Bitte helfen Sie mir." Die Polizei registriert eine hilflose Person.

Anna kommt ins Benjamin-Franklin-Krankenhaus (UKBF), wird untersucht. Ohne Ergebnis. Das Gehirn funktioniert. Keine Durchblutungsstörungen, kein Tumor, keine Drogen, keine Entzündung - nichts, was den Gedächtnisverlust erklären könnte. Auch keine Hinweise auf ein traumatisches Erlebnis, eine Vergewaltigung etwa. Über eine Woche lang rätseln Polizei, Ärzte und Anna. Über eine Woche lang vermisst sie auch offenbar niemand. Bei der Polizei geht keine entsprechende Vermisstenmeldung ein.

Dann meldet sich eine Frau. Sie habe Silvana im Fernsehen erkannt, behauptet sie. Sie sei die Mutter ihrer besten Freundin. Viel erfährt Anna von der Frau. Dass die beiden Freundinnen in einer Wohngemeinschaft in der Nähe von München gelebt haben, die Silvana aber plötzlich aufgelöst habe. Außerdem habe Silvana ein Diplom in Wirtschaftswissenschaften und sei gerade arbeitslos. Anna kann sich daran nicht erinnern. Auch die Frau ist ihr unbekannt. Von der Polizei erfährt die 27-Jährige dann, dass sie am 16. Juli gegen halb zehn das Haus ihrer Mutter in Schönebeck bei Magdeburg verlassen hat. Sie hatten sich gestritten und Silvana hat ihre Tasche gepackt: drei Handys, Papiere, etwas Geld. In Berlin waren all diese Sachen dann verschwunden. Dafür hatte sie einige österreichische Schillinge in der Tasche. Ratlos schaut Anna auf das Geld.

Ratlos sind auch ihre Ärzte. So etwas habe sie noch nie erlebt, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie am UKBF. Sie ist nicht nur ratlos, was die Ursache des Gedächtnisverlustes angeht. Sie weiß auch nicht, wie sie es wiederherstellen soll. Zunächst hatte man Anna mit Hilfe von Medikamenten in eine leichte Trance versetzt. Erinnerungsinseln seien aufgetaucht. An ein Buch von Max Frisch zum Beispiel. Wer sie ist, wusste Anna noch immer nicht. Auch die Konfrontation mit der Vergangenheit verlief ohne Ergebnis. Anna hat die Mutter ihrer besten Freundin nicht erkannt. Ihre eigene kann nicht kommen. Auch die Freundin nicht. In der nächsten Woche soll Anna hypnotisiert werden.

Ratlos ist auch die Polizei. So etwas hat Klaus Hornschuch von der Berliner Vermisstenstelle in seiner zehnjährigen Dienstzeit noch nicht erlebt. Es sei sehr selten, dass die Polizei die Identität von Personen feststellen muss, die am Leben sind und selbst nichts zu ihrer Identifizierung beitragen können. Höchstens fünf Fälle pro Jahr. Meist sind das Opfer von Verkehrsunfällen, die im Koma liegen und keine Papiere dabei haben.

Anna jedoch ist gesund. Vielleicht hat sie einen Mord beobachtet und jetzt verdrängt, vermutet Heuser. Deshalb will die Polizei wissen, was geschehen ist, nachdem Anna das Haus ihrer Mutter verlassen hat und bevor sie am Zoo ankam. Auch wie sie nach Berlin gelangte, weiß niemand.

Annekatrin Looss

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