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FÜNF  MINUTEN  STADT: Mädchenschrift

An einem Dienstagmittag Anfang Januar, am Rande eines Friedhofs in Friedrichshain. Die Trauergemeinde macht sich auf den Weg zum Leichenschmaus.

An einem Dienstagmittag Anfang Januar, am Rande eines Friedhofs in Friedrichshain. Die Trauergemeinde macht sich auf den Weg zum Leichenschmaus. Greise stützen einander, zwei müssen im Rollstuhl geschoben werden, es geht nur sehr langsam voran. Worüber sie wohl sprechen? Über den alten Freund, der fortan fehlt in dieser Gruppe, den Bruder, den Vetter? Darüber, dass die Begräbnisse dichter und dichter kommen, wie die Straßenschilder, wenn man sich einer Stadt nähert? Einer von ihnen wirkt etwas jünger, aber wohl nur deshalb, weil er statt eines schwarzen einen dunkelblauen Anzug trägt. Auch er scheut jetzt zurück vor dem geradezu unendlichen Verkehr auf der Straße, die sie vom Gasthaus auf der gegenüberliegenden Seite trennt. Erstaunlich eigentlich, dass es in diesem Moment mal nicht regnet. So können sie sich wartend wenigstens auf ihre Schirme stützen. Schließlich bremst ein Volkswagen, der Fahrer winkt, die Greise überqueren die Fahrbahn wie eine Herde lahmender Schafe. Auf der anderen Seite, vor dem Schaufenster eines Sanitärfachgeschäfts, mit Blick auf Badewannen, verschnaufen sie. Dann, fünf Minuten später und zehn Meter weiter, weist ihnen eine Schiefertafel den Weg ins Gasthaus. Ein Pfeil ist darauf gemalt und ein Name, es wird der des Verstorbenen sein: Meier. Mit Kreide geschrieben in geschwungenen Lettern, offenbar von einer jungen Frau, einer Kellnerin. Und der I-Punkt, er sieht aus wie ein gebrochenes Herz. Dirk Gieselmann

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